„Wer wegschaut, schützt die Täter“
Nicht aus Hilfslosigkeit wegschauen: Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Kerstin Claus, erklärt, warum Schulen dringend Handlungssicherheit brauchen.
- Sexualisierte Gewalt ist an vielen Schulen immer noch ein Tabuthema
- Schulen haben großes Potenzial, sexualisierten Missbrauch zu verhindern
- Verbindliche Schutzkonzepte steigern die Handlungskompetenz
Die #MeToo-Bewegung hat dazu beigetragen: In der Öffentlichkeit wird inzwischen offener über sexualisierte Gewalt gesprochen. Gilt das auch für Schulen?
Kerstin Claus: Zwar wird mehr darüber gesprochen, doch das heißt noch lange nicht, dass auch die individuellen Kompetenzen im Umgang mit sexualisierter Gewalt steigen. Sprich: Wie gehe ich damit um, wenn es mich wirklich etwas angeht? Wenn zum Beispiel ein Kind in meinem Umfeld betroffen sein könnte? Da handelt es sich häufig noch um ein Tabuthema. Das hat damit zu tun, dass sexuelle Gewalt stark von Täterstrategien geprägt ist: Täter und Täterinnen gehen sehr gezielt vor, sowohl mit Blick auf Kinder und Jugendliche als auch auf die Erwachsenen in deren Umfeld. Viele haben Angst, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen – statt sich zu fragen: Könnte es sein, dass dieses Kind akut sexueller Gewalt ausgesetzt ist?
Wie lässt sich diese Dynamik überwinden?
Fast jeder und jede Erwachsene sagt als Erstes: „Es wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte, wenn mir jemand so etwas vorwerfen würde.“ Gegen diese Angst, die ein weiteres Vorgehen verhindert, hilft nur Handlungskompetenz. Wie beim Brandschutz muss gelten: Wenn A passiert, müssen B und C folgen. Nur wenn ich Handlungssicherheit habe, traue ich mich, bei einem unguten Gefühl näher hinzuschauen. Wichtig ist ein professioneller Weg mit einer festgelegten Abfolge von Schritten, die den Kreis der Involvierten – auch innerhalb des Kollegiums – erst einmal klein hält. Sonst verharren wir in der Hilflosigkeit, bloß keinen Fehler machen zu wollen. Ein transparentes Verfahren, ein sogenanntes Rehabilitationsverfahren, ist übrigens auch wichtig, sollte sich der Verdacht tatsächlich als falsch herausstellen. Sonst bleibt Getuschel hintenherum, weil Vorwürfe ungeklärt sind. Das bedeutet konkret, dass alle, die über den Verdacht informiert wurden, auch sofort in Kenntnis gesetzt werden, wenn der Verdacht ausgeräumt wurde. Dabei muss mit der gleichen Sorgfalt vorgegangen werden wie bei der Verdachtsabklärung. Formate wie Supervision können für das Kollegium im Rahmen von Rehabilitation sehr unterstützend sein.
Wie könnten im Verdachtsfall die konkreten Handlungsschritte aussehen?
Die richtigen Schritte bei einem innerschulischen Verdacht ergeben sich aus dem sogenannten Interventionsplan, den jedes Schutzkonzept beinhalten sollte. Darin steht idealerweise, dass man Ruhe bewahren und keinesfalls die verdächtigte Person selbst mit dem Verdacht konfrontieren oder noch schlimmer in einem Gespräch zwischen dem Kind und der Person die Wahrheit herausfinden sollte. Wichtig ist es, immer die Schulleitung zu informieren, die für alles Weitere die schulischen Ansprechpersonen für sexualisierte Gewalt einbezieht. Es sollte immer auch eine externe Fachberatungsstelle hinzugezogen werden, die das nötige Wissen und die Erfahrung für eine Verdachtsabklärung mitbringt.
Warum ist Schweigen so fatal?
Wer schweigt oder wegschaut, schützt die straffällige Person. Sexuelle Gewalt ist keine zufällige Einmaltat, sondern wird strategisch geplant und über ein Machtgefüge aufrechterhalten. Das kann über Monate und Jahre gehen. Wenn Kinder und Jugendliche keine Wege finden, darüber zu sprechen, und ihnen Zugänge zu Hilfe verwehrt bleiben, isolieren sie sich und vereinsamen. Zudem gilt: Wo geschwiegen wird, bleiben Kompetenzen ungenutzt. Schulen haben großes Potenzial, präventiv zu arbeiten und Missbrauch zu verhindern.
Die bundesweite Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ wurde von Ihrem Vorgänger zusammen mit den Kultusbehörden der Länder entwickelt und hilft Schulen dabei, Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt entwickeln zu können. Worauf kommt es dabei an?
Wichtig ist, dass es eine Verbindlichkeit gibt. Fünf Bundesländer – Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein – haben im Schulgesetz verankert, dass jede Schule ein Schutzkonzept haben muss. Das braucht es überall, damit Schutzkonzepte kein „Nice-to-have“ sind, sondern so etwas wie ein Qualitätssiegel. Klar ist: Für die Umsetzung braucht es mehr externe Expertise und Ressourcen für die Fachberatungsstellen. Schulen können dies nicht allein. Denn: Wenn es flächendeckend Schutzkonzepte gibt, werden auch mehr Fälle sichtbar.
Wie sollten Schulen konkret vorgehen?
Niedrigschwellige Fortbildungsangebote wie das Onlinegame „Was ist los mit Jaron?“ geben einen ersten Einblick in das Thema. Wichtig ist, dass die Verantwortung für den Prozess nicht bei einer Person liegt. Dafür braucht es ein Team inklusive der Schulleitung. Außerdem gilt es zu klären: Wer kann uns unterstützen? Die Schulen benötigen ein lokales Netzwerk, dazu gehören Fachberatungsstellen, aber auch Polizei und Jugendamt. Wer Ansprechpersonen kennt, hat einen niedrigschwelligen Draht und kann einfach mal nachfragen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass das Schutzkonzept kein Alibiordner wird, der im Regal steht.
Kerstin Claus ist Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).