Kooperieren und vernetzen
Seit drei Jahren forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Fachhochschule Dresden, wie sich Schulabsentismus in den Griff bekommen lässt. In einer ersten Bilanz erklären der Sozialwissenschaftler Markus Andrä und die Soziologin Katrin Pittius unter anderem, warum Netzwerkarbeit so wichtig ist.
- Schulabsentismus hat viele Ursachen und oft weitreichende Folgen
- Netzwerkarbeit ist für die Problemlösung entscheidend
- Schnelles Eingreifen und klare Strategien erhöhen Erfolgschancen
Schulabsentismus – wie ernst ist das Problem?
Markus Andrä: Fast sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Nach neuesten Angaben steigen diese Zahlen weiter. Und bevor sich diese jungen Menschen komplett aus dem Bildungssystem zurückziehen, haben sie in der Regel oft in der Schule gefehlt.
Katrin Pittius: Viele Lehrkräfte erleben jeden Tag, dass Schülerinnen und Schüler nicht zur Schule kommen – und fühlen sich damit allein gelassen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Coronapandemie das Problem noch verschärft hat.
Was trägt dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler nicht zur Schule gehen?
Andrä: Unser Bildungssystem zielt stark auf Bewertung ab und ist mit Druck verbunden. Unsere Interviews zeigen, dass einige junge Menschen damit nicht zurechtkommen. Sie fühlen sich überfordert, erleben in der Schule Kränkungen und erfahren wenig oder gar keine Anerkennung. Manche bringen eine lange Vorgeschichte mit, die schon in der Kita oder der Grundschule beginnt. Teilweise haben sie bittere Erfahrungen mit dem Gesamtsystem Schule gemacht – und ziehen sich daraus zurück.
Gibt es noch weitere Gründe als der Druck in der Schule?
Andrä: Natürlich spielen auch andere Rahmenbedingungen eine Rolle, beispielsweise das Elternhaus: Welche Erfahrungen mit Schule gibt es dort? Welche Haltung? Wie früh erkennen Eltern, dass es möglicherweise ein Problem mit dem regelmäßigen Schulbesuch gibt?
Mit Ihrem Projekt unterstützen Sie das Jugendamt Dresden dabei, eine Strategie gegen Schulabsentismus zu entwickeln. Was hat sich als wirkungsvoll herausgestellt?
Andrä: Am besten ist es, Wege zu finden, um fehlende Jugendliche so schnell wie möglich wieder in die Schule zurückzuholen. Rückkehrversuche dürfen nicht scheitern, weil damit neue Kränkungen einhergehen. Je schneller der Kreislauf unterbrochen wird, desto größer sind die Chancen.
Das Projekt zielt unter anderem darauf ab, die Vernetzung von Lehrkräften, Schulsozialarbeit, Schulpsychologie und Jugendhilfe zu verbessern. Warum ist Kooperation so wichtig?
Pittius: Weil so alle zusammen Verantwortung tragen und niemand mit dem Problem allein gelassen wird. Wichtig für gelingende Netzwerkarbeit sind verbindliche Strategien für alle Beteiligten. Dabei gilt es auch die Eltern mitzunehmen. Sie sind oft genauso rat- und hilflos.
Andrä: Oft geht Absentismus auch mit psychischen Problemen einher, mit Krisen oder traumatischen Erfahrungen. Da braucht es auch therapeutische Angebote.
Welche Rolle spielt die Schulsozialarbeit?
Pittius: Schulen sollten nicht nur fragen: Was fehlt uns? Sondern auch schauen: Welche Ressourcen haben wir? Da spielt unter anderem die Soziale Arbeit eine wichtige Rolle. Sie fehlt leider noch vielerorts, kann aber dort, wo sie bereits vorhanden ist, viel leisten. Ihre Aufgabe ist es, für eine Atmosphäre der Anerkennung zu sorgen und Prävention zu fördern. Die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen lernen im Studium, wie sich Konflikte regeln lassen – und kennen sich in der Regel ziemlich gut mit dem Thema aus. Es braucht flächendeckend viel mehr Schulsozialarbeit und eine bessere Vernetzung.
Wie gelingt die Zusammenarbeit am besten?
Pittius: Dafür sind eine Strategie, Verbindlichkeiten, Ziele und vor allem Menschen notwendig, die das umsetzen wollen und können. Und die Bedingungen müssen stimmen, dazu gehören zeitliche und personelle Kapazitäten. Wichtig ist, dass die Schulleitung klar sagt: Wir wollen das!
Ganz konkret: Wie könnte so eine Strategie aussehen?
Pittius: Unabdingbar im gesamten Prozess ist – dort, wo vorhanden – die aktive Einbeziehung der Schulsozialarbeiter und -arbeiterinnen. Basis der Strategie wäre zunächst einmal eine Art schriftlicher Leitfaden, sodass die Lehrkräfte wissen, welche Schritte möglich sind und wer dafür die richtigen Ansprechpersonen. Wichtig wäre auch, individuelle Wege zum Ziel zu haben, das heißt, dass alle zusammen im Netzwerk immer am Kind und dessen Lebenswelt orientiert handeln.
Was können Schulen – insbesondere Lehrkräfte – präventiv gegen Schulabsentismus tun?
Andrä: Hinschauen, hinhören, eine zugewandte Haltung zum Kind bewahren, Vertrauen aufbauen. Und einen regelmäßigen wertschätzenden Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen pflegen, weil nur so überhaupt gemeinsame Krisenintervention möglich ist.
Prof. Dr. phil. Katrin Pittius, Soziologin, Studiengang Sozialpädagogik und -management, Fachhochschule Dresden
Prof. Dr. phil. Markus Andrä, Sozialarbeiter, Studiengang Sozialpädagogik und -management, Fachhochschule Dresden