„Lehrkräfte sind die sozialen Architekten der Zukunft“
Über Jahre eingespielte Abläufe und gewohnte Strukturen in Schulen funktionieren bedingt durch Corona plötzlich nicht mehr. Univ.-Prof. i. R. Dr. Michael Schratz, Erziehungswissenschaftler und Schulpädagoge an der Universität Innsbruck, sieht darin die Chance für einen Innovationsschub. Im Gespräch erklärt er, warum.
- Pandemie boostert Digitalisierung in Schulen
- Neues Rollenverständnis im Lehrberuf
- Selbstlernfähigkeit muss fächerübergreifend vermittelt werden
Herr Dr. Schratz, die Coronapandemie hat die Schule auf den Kopf gestellt und Sie sehen darin durchaus Positives. Warum?
Dieses Virus war ein Booster in Sachen Digitalisierung und hat die technischen Kompetenzen enorm beeinflusst. Alle Lehrpersonen mussten sich auf einmal – ob sie es wollten oder nicht – mit Technik und Digitalisierung sowie darauf basierenden neuen Lehrmethoden auseinandersetzen. Das führte zu einem ungeheuren Innovationsschub im digitalen Unterrichten. Beeindruckende Beispiele dafür zeigen unter anderem die Schulen, die sich für den Deutschen Schulpreis beworben und gewonnen haben.
Ihrer Meinung nach müsste in diesem Zusammenhang die traditionelle Rolle der Lehrkraft überdacht werden. Wie meinen Sie das?
Historisch gesehen ist die Rolle der Lehrkraft die des reinen Wissensvermittlers. Viele Jahrzehnte stand die Lehrkraft vor der Klasse und erklärte das im Lehrplan ausgewiesene Weltwissen. Heute haben die Schüler und Schülerinnen selbst Zugriff auf das Weltwissen jenseits von Lehrplan und ohne die Lehrkraft. Zum Beispiel über populärwissenschaftliche Sendungen wie MaiLab und viele andere seriöse Quellen. In Mediatheken und Angeboten im Internet steht sehr gut aufbereitetes Wissen zur Verfügung. Die Lehrkraft muss zwar immer noch erklären, aber in anderer Form und aus einem neuen Rollenverständnis heraus, um den kompetenten Umgang mit Wissen nachhaltig sicherzustellen.
Welche Rollen wären das?
Die Lehrkraft ist pandemiebedingt nicht mehr nur Experte für das zu vermittelnde Wissen, sondern Lernhelfer, Moderator, Organisator und IT-Fachkraft. Das war sie oft schon vorher, aber die Schulschließungen haben diese Rollen verstärkt erforderlich gemacht.
Sind die Lehrkräfte darauf vorbereitet?
Das ist sehr unterschiedlich. Covid-19 hat den Schulen, den Lehrkräften sowie den Schülerinnen und Schülern viel abverlangt. Eine der größten Herausforderungen lag darin, dass quasi von heute auf morgen die Schülerschaft nicht mehr präsent war – und die Lehrenden ganz schnell Techniken für einen Distanz- unterricht parat haben mussten. Sie hatten sich um die Hardware- und Softwareversorgung zu kümmern, damit selbstorganisiertes Distanzlernen möglich war. Schulen und Kollegien, die bereits zuvor neue Lernformen eingeführt hatten – beispielsweise den Flipped Classroom oder das Arbeiten über Lernplattformen –, hatten es während der Pandemie deutlich einfacher.
Wie kann sich diese veränderte Lehrerrolle positiv auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis auswirken?
Das alte Muster – die Lehrperson initiiert, ein Schüler oder eine Schülerin antwortet und die Lehrperson evaluiert mit „richtig“ oder „falsch“ – ist in vielen Schulen schon lange überholt –, aber nicht in allen. Heute muss sich eine Lehrkraft die Frage stellen: Was brauchen die einzelnen Schüler und Schülerinnen wirklich, wo sind ihre Potenziale und wie kann ich diese entfalten? Stichworte Ressourcenorientierung und Differenzierung. Dadurch ist das Unterrichtsgeschehen responsiver geworden, das Lernen personalisierter und individualisierter. Das stärkt die Beziehung zwischen Lehrperson und den einzelnen Lernenden.
Beim Deutschen Schulbarometer Spezial, einer Forsa-Befragung, geben 67 Prozent der Lehrkräfte an, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler stärker befähigen wollen, mehr Eigenverantwortung für ihr Lernen zu übernehmen. Wie kann das trainiert werden?
Das ist ein Lernprozess, der meiner Ansicht nach in ein Curriculum gehört. Jede Schülerin und jeder Schüler muss lernen: Wie kann ich mich disziplinieren, mit meiner Arbeit anzufangen, wie schaffe ich es durchzuhalten und wer kann mir weiterhelfen, wenn ich ein Problem habe? In der Präsenzphase wird das alles fremdorganisiert. Die Schulglocke gibt Anfang und Ende vor, die Lehrkraft bestimmt, was wann zu erledigen ist, gibt Zeitvorgaben. Zu Hause muss man selbst den Tag strukturieren. Das ist nicht einfach. Ein Methodencurriculum, ein aufbauendes Lernprogramm zum selbstständigen Lernen, hilft dabei. Und zwar systematisch über alle Fächer hinweg. Andernfalls hängt die Fähigkeit zur Selbstlernfähigkeit von der Kompetenz einer Lehrkraft und damit vom Zufall ab. Das ist aus Schulentwicklungsperspektive nicht förderlich.
Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass viele Schulen mit dem Distanzunterricht nicht so gut zurechtgekommen sind.
Das stimmt. Einfach nur Arbeitsblätter auszuteilen, funktioniert nicht wirklich, selbst wenn die Lehrkräfte sie den Kindern persönlich in den Briefkasten werfen. Das ist ja auch nicht die Idee eines Fernunterrichts in Zeiten der Digitalität. Allerdings ist dazu eine entsprechende Infrastruktur erforderlich, die Schulen und Haushalten oft fehlte.
Zurück zu den Chancen, die guter digitaler Unterricht bieten kann.
Er kann zum Beispiel dabei helfen, dass Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen Tempo arbeiten können und dabei gefördert, aber auch gefordert werden. In einigen Schulen wird seit der pandemiebedingten Krise mit Lernplattformen gearbeitet, die den Lehrkräften viel mehr Informationen liefern als der bloße Blick ins Übungsheft. Die Arbeiten der Schülerinnen und Schüler werden hier zentral abgelegt. So kann zum Beispiel die Klassenlehrkraft die Leistungen eines Schülers in unterschiedlichen Fächern beobachten und notwendige Coachings anbieten, wenn beispielsweise immer wieder ähnliche Fehler gemacht werden. Sehr bewährt hat sich zudem, dass Schülerinnen und Schüler auch digital in Teams gearbeitet haben. Das geht auch über die Distanz. So konnten geübtere Kinder und Jugendliche jene unterstützen, die sich schwerertaten oder benachteiligt waren, um die Lernziele zu erreichen.
In der bereits genannten Befragung war ein Ergebnis, dass manche Schüler und Schülerinnen während des Fernunterrichts mehr persönlichen Kontakt zu ihrer Lehrkraft hatten als vorher und besser mitarbeiten konnten als in Präsenz. Wie ist das zu erklären?
Das ist in der Tat ein erstaunliches Ergebnis und wurde sowohl von Lehrkräften als auch von Schülerinnen und Schülern geäußert. Im Präsenzunterricht sind die Lehrkräfte immer mit der ganzen Klasse im Austausch und gehen davon aus, dass alle alles mitbekommen. Als die Schülerinnen und Schüler zu Hause waren, musste die Lehrperson persönlich klären, ob die Unterrichtsinhalte erwartungsgemäß angekommen sind und verstanden wurden. Sie musste sich also verstärkt bemühen, die Lernenden zu verstehen und zu unterstützen. Durch diesen persönlichen Kontakt in deren häuslichem Umfeld lernten sie einzelne Schülerinnen und Schüler zum Teil näher und besser kennen als im Präsenzunterricht.
Was lässt sich daraus lernen?
Personalisierung ist eine sehr wichtige Funktion. Dafür ist eine persönliche Kontaktaufnahme nötig. Zum Beispiel indem man einmal in der Woche Coachings mit jedem Einzelnen anbietet. Ich habe die Rückmeldung bekommen, dass manche Lehrpersonen überrascht waren, wie viel sie den Schülerinnen und Schülern während des Lockdowns zutrauen konnten. Das wäre ihnen im Präsenzunterricht gar nicht bewusst geworden.
Andererseits hat der Verlust von Nähe auch die Bedeutung der Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden sowie Elternhaus und Schule deutlich gemacht. Wie sehr hängt eine gute Beziehung mit dem Bildungserfolg zusammen?
In der häuslichen Isolation kann man sehr vereinsamen. Was sich gezeigt hat: Beziehung ist mehr als nur der Austausch in Form von Fragen und Antworten. Es hat viel mit Empathie zu tun und mit Achtung und Resonanz. Also beispielsweise: Traut mir eine Lehrperson überhaupt zu, dass ich das schaffe? Die Zuwendung, die Aufmerksamkeit und das Sorgsame gingen manchmal durch den fehlenden persönlichen Kontakt verloren. So konnten manche Kinder und Jugendliche nicht gut aufgefangen werden und fielen zurück.
Die Schulschließungen haben das Leben von vielen Lernenden destabilisiert. Welche Maßnahmen können hier helfen, damit Kinder und Jugendliche diese psychosoziale Herausforderung besser bewältigen können?
Hier spreche ich von „Well Being“, einem für mich ganz wichtigen Bildungsziel im Hinblick auf Selbstwirksamkeit und Resilienz. Es geht um die Förderung des individuellen und sozialen Wohlergehens, physische und psychische Gesundheit eingeschlossen. In Ländern wie Kanada oder Singapur wird das schon gut umgesetzt. Das Bewusstsein, dass es den Kindern im Alltagsleben gut gehen muss, ist essenziell. Auf Monitoren in Singapurs Grundschulen werden die Kinder gefragt: Hast du heute schon positive Erfahrungen gemacht? So kommen die Kinder langfristig selbst vom Problem zur Lösung und lernen beispielsweise anzusprechen, wenn sie etwas ärgert. Kurzum: Die Fähigkeit zur Selbstführung ist sehr wichtig und kann helfen, aus persönlich instabilen Lagen herauszukommen. Wenn man nicht an sich selbst glaubt, ist es schwierig, sein Leben zu meistern.
Ein Fazit: Welche Konsequenzen können Schulen aus den Erfahrungen des Fernunterrichts ziehen?
Die erste Konsequenz: Es braucht eine ausreichende digitale Infrastruktur. Das war in vielen Schulen nicht der Fall und es gibt immer noch Nachholbedarf. Schwache Netzwerke, kein Zugang zum Internet und fehlende Endgeräte sind ein Problem. Schule hinkt in der technologischen Entwicklung sehr stark hinter Gesellschaft und Wirtschaft her. Die zweite Konsequenz ist die Unterrichtsform – sie muss sich weiter verändern, und zwar von „Wissen vermitteln“ zu „Wissen erarbeiten“. Dafür sollten die neuen Technologien konsequent genutzt, aber auch kritisch hinterfragt werden. Die dritte Konsequenz ist, dass Schule sich öffnen muss. Schule ist vielfach immer noch eine sehr starre Organisation, die sich in den letzten 50 Jahren wenig verändert hat. Dynamisierung und Flexibilisierung des Unterrichts sind dringend erforderlich.
Ein Blick in die Zukunft: Sehen Sie die Gefahr, dass die Schulen nach der Pandemie zum alten Modus zurückkehren?
Hoffentlich nicht. Die Coronakrise und die damit verbundenen Schulschließungen haben dafür gesorgt, dass sowohl die Schüler und Schülerinnen als auch die Schulen sich vermehrt selbst organisieren mussten und dies auch taten. Die gemachten Erfahrungen gilt es weiterzuentwickeln und allgemein zu einer agileren, offenen Schulkultur zu finden. Schulen sind die Zukunftswerkstätten. Dort wird die nächste Generation vorbereitet. Die Lehrpersonen sind die sozialen Architekten der Zukunft.