Lasst uns reden
Gewalt und Konflikte nicht tabuisieren oder in die „Problemecke“ rücken, Raum und Zeit für Kommunikation und einen respektvollen Austausch schaffen: All das lebt die Achtenbeckschule in Herten in Nordrhein-Westfalen. Eine gute Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern und ein Schulklima der Offenheit stehen hier im Mittelpunkt – und das ist überall spürbar.
- Die Achtenbeckschule setzt auf verschiedene Bausteine der Gewaltprävention
- Vertrauen und Beziehungsaufbau bilden das Fundament
- Konflikte werden möglichst zeitnah geklärt
Wenn man die Achtenbeckschule in Herten betritt, ist da ein heller Raum mit hohen Decken und Säulen, in den Boden eingelassen eine Vertiefung mit Stufen, auf denen man sitzen und sich austauschen kann. Das „Forum“, so heißt der Eingangsbereich, bietet Platz für Gespräche und Begegnungen. Am Rand steht eine Gruppe von Lehrkräften mit einem Schüler, vertieft in ein Gespräch über eine Grenzüberschreitung. Der Ton ist ruhig und konzentriert.
„Wir kommen alle mal in Konflikte, auch Gewaltvorfälle kommen vor“, sagt Tobias Gahlen, Schulleiter an der Förderschule seit Februar 2020. „Aber wir wissen, wie wir damit umgehen, und nutzen viele unterschiedliche Bausteine, um gegenzusteuern.“
Das unterstreichen auch die vielen Urkunden an den Wänden – der Schulentwicklungspreis für gute gesunde Schule, die Auszeichnung für einen Schul-Comic sowie die Auszeichnung als „Schule gegen Rassismus, Schule mit Courage“. Zu den weiteren Bausteinen der Gewaltprävention gehören in der Primarstufe das Programm „Lubo aus dem All“, bei dem schon die Jüngsten ihre Gefühle besser kennenlernen, das Buddy-Projekt, bei dem „Große für Kleine“ vorlesen und so in Beziehung treten, Projekte gegen Cybermobbing, die Ausbildung von Schülerinnen und Schülern zu Streitschlichtenden sowie intensiv- und erlebnispädagogische Angebote, etwa durch Besuche eines Reiterhofs. „Das Pferd ist heute aber nicht hier!“, sagt der Schulleiter und lacht.
Schade eigentlich. Doch wieso setzt die Schule in der Gewaltprävention auf einen so breit gefächerten Maßnahmenkatalog?
Das Fundament: Vertrauen und eine gute Beziehung
Die Achtenbeckschule ist eine Förderschule mit den Klassen 1 bis 10 und einer großen Bandbreite in der Schülerschaft. „Wir haben bei uns sehr heterogene Lern- und Leistungsvoraussetzungen“, erläutert Gahlen. „Daher unterrichten wir nach dem Förderbandsystem und bis zum Jahrgang 8 in den Hauptfächern nicht nur nach Jahrgang, sondern auch nach Leistungsniveau.“ Konkret heißt das, dass auch Jüngere mit Älteren zusammenkommen können – jeder und jede wird da angenommen, wo er oder sie steht.
„Was uns ausmacht, ist, dass wir sehr eng mit unseren Schülerinnen und Schülern zusammenarbeiten“, führt der Schulleiter aus. „Es gibt zwar auch Fachlehrerunterricht, der beschränkt sich aber auf wenige Stunden, einfach weil unsere Schüler sehr viel Beziehung und Struktur brauchen.“
Der hohe Stellenwert der Beziehungspflege zeigt sich auch in strukturellen Maßnahmen. Dazu gehört der Klassenrat, der im Stundenplan wöchentlich fest verankert ist. Bei den Sitzungen sprechen die Schülerinnen und Schüler über Probleme, Bedürfnisse und konkrete Wünsche, wie sie ihr schulisches Leben gestalten möchten. Die Ergebnisse werden an die Schülervertretung und schließlich die Lehrerschaft herangetragen. So entsteht Vertrauen – und das Wissen, gehört zu werden. Für Gahlen das tragende Fundament: „Das Vertrauen, das unsere Schülerinnen und Schüler in ihre Lehrkräfte haben, ist die wichtigste Grundlage. Denn wenn ich das nicht habe, kann ich all die anderen Programme schlechter umsetzen – dann lässt sich keiner darauf ein.“
Regelmäßige Befragungen
Glücklicherweise ist dieses Vertrauen vorhanden. Das zeigt die rege Beteiligung der Schülerschaft an Umfragen, die alle zwei Jahre stattfinden. Im Fokus stehen dabei Konflikte und Gewalterfahrungen: Gibt es Orte, an denen du dich unsicher fühlst? Orte, an denen dir Beschimpfungen oder Erniedrigungen aufgefallen sind? An denen du Schlägereien beobachtet hast? Und natürlich: Weißt du, zu wem du gehen kannst, wenn du Hilfe brauchst?
Ein Ergebnis der ersten Befragung aus dem Jahr 2018/19 stellte den Pausenhof als einen „Brennpunkt“ heraus, woraufhin ein Pausenraum geschaffen wurde, der heute mit Spielen, Sitzgelegenheiten und zwei Kickern zum Zeitvertreib einlädt. „Das ist ein Angebot, das rege genutzt wird“, sagt Tanja Trittschack, seit 2005 Lehrerin an der Achtenbeckschule.
In einer zweitägigen Fortbildung ließ sich die Lehrerin in MindMatters weiterbilden – ein Programm, das von der Leuphana Universität Lüneburg, den Unfallkassen und der Barmer angeboten wird und Unterrichtseinheiten rund um mentale Gesundheit umfasst. Trittschack setzt MindMatters seitdem um und ist auch an der Auswertung der Schülerumfragen beteiligt. „Die Konflikte waren weitaus größer und es waren viel mehr, als wir den Pausenraum noch nicht hatten, weil sich die Schüler nicht so verteilen konnten“, erklärt Trittschack. Eine weitere Maßnahme als Folge der Schülerumfragen ist die noch laufende Ausbildung von rund 15 Schülerinnen und Schülern zu „Streitschlichtern“. Sie sollen später als Ansprechpersonen zur Verfügung stehen – mit einem eigenen Büro.
ZEIT FÜR KONFLIKTE
Ein Gong ertönt, und schon geht es los zur 8b, wo Trittschack eine MindMatters- Einheit unterrichten wird. Ein Schüler kommt ein wenig verspätet herein, es gab noch eine Situation aus der Pause zu klären – so etwas geht vor. „Wir klären Konflikte sofort und alle wissen, dass wir uns die Zeit dafür nehmen“, sagt Trittschack. „Wir schieben das nicht auf oder machen es zwischen Tür und Angel. Ich glaube, dass wir dadurch auch ruhiger Unterricht machen können – weil eben keine Konflikte noch irgendwo brodeln.“ Ein gutes Klima im Unterricht, das ist allen wichtig. An der Tafel hängen deshalb farbige Zettel – rot, gelb, grün –, auf ihnen sind die einzelnen Namen der Schülerinnen und Schüler geheftet. Eine Ampel? „Ja“, sagt Trittschack, „dieses Ampelsystem haben wir in jeder Klasse, damit man direkt sehen kann, ob es noch etwas zu klären gibt. Es dient uns auch während des Unterrichts fortlaufend als Rückmeldesystem, so können wir auf Zwischenmeldungen der Schülerinnen und Schüler eingehen.“
Doch heute ist alles im grünen Bereich – und schon geht es los mit einem Quiz. „Was bin ich? Ihr kennt mich alle“, beginnt Trittschack. „Ihr findet mich an vielen Orten, ich bin so alt wie die Menschheit. Wenn du für eine Arbeit lernen musst, begegne ich dir auch. Ich bin aber nicht so beliebt …“ – „Mathe!“ – „Englisch!“, hagelt es erste Antworten. Nah dran. „Ihr begegnet mir manchmal beim Blick auf die Uhr, vor allem vor Unterrichtsbeginn. Doch man kann mich nicht wirklich fühlen, weil ich keinen Körper habe“, fährt Trittschack fort. „Stress!“, ruft da Abdullah. Volltreffer!
MindMatters: Haben wir Stress?
Heute soll es also konkret um zwei Fragen gehen: Wann begegnet euch Stress und wie fühlt ihr ihn in eurem Körper? Plakate zum Beschriften und Tablets werden verteilt, QR-Codes können bei Bedarf gescannt werden, um Anreize zu erhalten. Die Schülerinnen und Schüler fangen an zu überlegen. „Beim Fußball habe ich Stress“, sagt Adnan. „Oder beim Zocken!“, ergänzt Victory. Schnell sind verschiedene Situationen zusammengetragen: Wenn man für Arbeiten lernt. Etwas vergisst. Den Bus verpasst. Neue Leute kennenlernt. Bei Termindruck.
„Es geht erst mal um das Erkennen und Definieren von Stress – denn es kommen in diesem Alter noch mal ganz andere Stresssituationen hinzu“, erläutert Trittschack. „Aber viele unserer Schülerinnen und Schüler haben schon einen kleinen Rucksack mit Werkzeugen dabei, um mit Stress umzugehen. Der muss nur noch weiter gepackt werden.“ Ein Schritt in diese Richtung ist die Präsentation der Ergebnisse: Während Ernes nach vorne geht und präsentiert, möchte Marie lieber vom Platz aus vorlesen – auch das ist okay. „Das Herz schlägt schnell. Man ist aufgeregt. Ängstlich. Nervös. Durcheinander“, liest sie vor. Da kommt ja ganz schön was zusammen.
Alle sind sich also einig: Sie kennen Stress, er gehört zu ihrem Leben dazu. „Bei uns wird alles besprochen, auch schon bei den Kleinen, das ist bei uns im Alltag enthalten“, resümiert Trittschack. „Aber es ist gut, dass man mit einem Programm wie MindMatters einen strukturierten Leitfaden für gewisse Themen erhält.“
Rote Linien: Wer schlägt, geht
Ein Schulklima der offenen Kommunikation und keine Tabuisierung von Gewalt oder Konflikten – das ist nicht nur für Gahlen und Trittschack, sondern für die ganze Schulgemeinschaft der Achtenbeckschule der Boden, auf dem eine wertschätzende, möglichst gewaltfreie Lernumgebung entsteht. Alltagskonflikte gehören dabei eben dazu, betont der Schulleiter, oft sind die Ursachen kleine Dinge, die sich in größeren verbalen Streitigkeiten entladen.
Die zeitnahe Klärung ist dann das vordringliche Ziel. Doch es gibt natürlich auch Vorfälle, die nicht sofort, sondern in einem größeren Rahmen geklärt werden. „Wer schlägt, geht“, lautet so eine rote Linie, erläutert Gahlen, dann wird der oder die Betroffene vom Unterricht an dem Tag entlassen und es finden Gespräche mit den Eltern sowie Kolleginnen und Kollegen statt. Das ist wichtig, sagt der Schulleiter, damit auch im Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler eine Abgrenzung stattfindet: von Alltagskonflikten zu gröberen Verstößen.
Ein Muss: Gesunde Lehrkräfte
Ein transparenter Umgang mit Konflikten und Herausforderungen hört an der Achtenbeckschule aber nicht in der Schülerschaft auf. Auch die Lehrkräfte pflegen einen sehr offenen Umgang mit dem Thema Gewalterfahrungen, Stress oder Belastung. „Wenn ich Schwierigkeiten habe in der Klasse, habe ich keine
Hemmungen, mit Kollegen darüber zu reden“, sagt Trittschack. „Wir unterstützen uns gegenseitig. Und jeden Tag gibt es eine Frühbesprechung.“ Das A und O sei das Klima untereinander, unterstreicht auch Gahlen: „Wenn das Klima gut ist, kommen alle gerne in die Schule und fühlen sich wohl. Und dann können auch schwierige Situationen oder Stress besser weggesteckt werden.“
Trotzdem gebe es natürlich Herausforderungen, die jede Lehrkraft für sich ganz bewusst angehen müsse. Dazu gehört das Thema Entgrenzung der Arbeitszeit aufgrund der ständigen Erreichbarkeit. „Lehrer müssen lernen, einen konsequenten Weg zu fahren, etwa sagen, ab einer gewissen Uhrzeit schaue ich nicht mehr in meine Mails oder Kommunikations- App“, sagt der Schulleiter. Denn natürlich ist das Kollegium eine wichtige Grundlage. „Wir gehen mit allen Schülerinnen und Schülern vorurteilsfrei um, haben ein offenes Ohr und nehmen uns genug Zeit.“
Zeit nehmen? Tatsächlich sind schon mehr als zwei Stunden vergangen, so viel gab es an der Achtenbeckschule zu entdecken – einer Schule, die nicht nur Offenheit und Transparenz lebt, sondern sich auch Zeit nimmt, um die Grundlagen zu schaffen: für einen respektvollen Umgang und ein gewaltfreies Miteinander.
Mehr Informationen findet man auf der Website der Achtenbeckschule