In der Schule angekommen?
Dr. Antje Brock untersucht gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen am Institut Futur der Freien Universität Berlin, inwieweit Bildung für nachhaltige Entwicklung schon in deutschen Schulen angekommen ist. Kleiner Spoiler: Es gibt noch Luft nach oben.
- Laut einer Studie setzt (nur) jede zweite Lehrkraft BNE im Unterricht um
- Vielerorts fehlt nach wie vor eine Verankerung in den Lehrplänen
- Schülerinnen und Schüler wünschen sich mehr Nachhaltigkeitsthemen
In unserer Gesellschaft wurden Nachhaltigkeitsthemen in den vergangenen Jahren immer wichtiger. Spiegelt sich das auch in den Schulen wider?
Dr. Antje Brock: Teils, teils. Man kann die Frage aus zwei Perspektiven betrachten. Zum einen: Hat sich etwas im Vergleichszeitraum von 2018 bis 2022 verändert? Dann können wir anhand unserer Ergebnisse die Frage bejahen, denn mehr als 50 Prozent der Lehrkräfte kennen das Konzept Bildung für nachhaltige Entwicklung mittlerweile und setzen es in gewissem Maße im Unterricht um. Die andere Perspektive: Entspricht die Relevanz des Themas in den Schulen derjenigen, die es für die Schülerinnen und Schüler sowie in der gesellschaftlichen Notwendigkeit hat? Dann nein.
Was bedeutet das genau?
Dass es ein großes Vollzugsdefizit in der Gesellschaft bezogen auf Nachhaltigkeit gibt. Seit Jahrzehnten, spätestens seit der UN-Umweltkonferenz von Rio de Janeiro 1992, steht nachhaltige Entwicklung auf der Agenda. Gleichzeitig werden entscheidende Ziele regelmäßig verfehlt. Seit der Rio-Konferenz existiert das entsprechende Bildungskonzept unter dem Namen „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, kurz: BNE. Auch die Kultusministerkonferenz hat sich bereits 2007 klar positioniert, dass BNE querschnittlich im gesamten Schulsystem verankert werden soll.
Woran hapert es denn vor allem?
Ein Flaschenhals ist sicher die Ausbildung von Lehrkräften an den Hochschulen und Universitäten. In unserer Befragung aus dem Jahr 2022 gaben 64 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an, dass sie während ihres Studiums nie mit BNE in Kontakt gekommen sind, weitere 22 Prozent hatten selten damit zu tun. Nur 14 Prozent haben berichtet, dass sie regelmäßig oder oft BNE-Inhalte zum Thema hatten.
Gibt es für Lehrkräfte, deren Studium schon länger zurückliegt, berufsbegleitende Angebote zur Weiterbildung?
Fort- und Weiterbildungen sind nicht in allen Bundesländern zwingend vorgeschrieben. An Fortbildungen im Bereich BNE haben unserer Befragung zufolge in den vergangenen fünf Jahren 13 Prozent der Lehrkräfte teilgenommen, das ist ein leichter Zuwachs. Vier Jahre zuvor waren es noch neun Prozent. Gemessen daran, dass Lehrerinnen und Lehrer sagen, in einer idealen Schule, die ganz ihren Vorstellungen entspräche, würden sie in fast 50 Prozent der Unterrichtszeit deutliche Nachhaltigkeitsbezüge herstellen, ist das sehr überschaubar.
Was hält sie von mehr Nachhaltigkeit im Unterricht ab?
Ein wesentlicher Punkt ist die fehlende Verankerung von BNE in den Lehrplänen. Wenn man ohnehin oft nicht genügend Zeit hat, den Curriculastoff durchzunehmen, erscheinen Nachhaltigkeitsthemen für viele als etwas, dem man sich zusätzlich widmet. Dafür fehlt dann die Zeit. Zudem gehen Themen wie Klimawandel, Artenverlust, aber auch soziale Gerechtigkeit global und lokal teils mit gesellschaftspolitischen Spannungen einher. Es braucht hierfür nicht nur Wissen, sondern auch wichtige Kompetenzen, die auf die emotionale Ebene abzielen.
Was würden Sie also vorschlagen?
Neben der Lehrerausbildung und querschnittlichen Verankerung in den Lehrplänen würde es zum Beispiel helfen, wenn wie in vielen Schulen in Skandinavien Freiräume für interdisziplinäre Themen geschaffen werden. Effektiv ist Lernen dann, wenn am Ende das Gefühl bleibt: Hier haben wir etwas gemacht, das sinnvoll war, wir haben einen Unterschied bewirkt.
Hätten die Schülerinnen und Schüler überhaupt Lust auf das Fach?
Laut unserer Umfrage ja, ganz klar. Wir haben ihnen die Frage gestellt: In einer idealen Schule, welchen Umfang würden dort Nachhaltigkeitsthemen einnehmen? Die Antwort war, dass sie sich das für 38 Prozent ihrer Unterrichtszeit wünschen – das ist deutlich mehr als doppelt so viel wie die gegenwärtige Beschäftigung damit im Unterricht.
Warum gehört BNE Ihrer Ansicht nach in die Schule?
Nachhaltigkeitsthemen und -krisen gehören zu den wichtigsten Themen unserer Zeit, sie treiben die Jugendlichen ohnehin um. Und das Konzept BNE hat nicht nur eine thematische Ebene, sondern auch eine methodische. Hier geht es zum Beispiel um eine partizipative Unterrichtsgestaltung, die stark von der Lebenswelt der Lernenden ausgeht. Es geht auch darum, dass sich die Schülerinnen und Schüler eine eigene Meinung bilden und diese kritisch reflektieren können. Wenn sie über Zusammenhänge informiert sind, führt das dazu, dass sachlich diskutiert werden kann und Standpunkte der anderen verstanden werden können – auch wenn sie sich erst einmal sehr von den eigenen unterscheiden.
Über die Person
Dr. Antje Brock ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Futur der Freien Universität Berlin, das sich der erziehungswissenschaftlichen Zukunftsforschung widmet. Sie ist Teil des Teams, das im Rahmen des UNESCO-BNE-Programms „ESD for 2030“ ein Monitoring der Implementierung von BNE in Deutschland erarbeitet. Neben den regelmäßigen Befragungen von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern kamen im Jahr 2023 erstmals auch Schulleiterinnen und Schulleiter zu Wort.
Zu den aktuellsten Auswertungen:
https://kurzelinks.de/gdvf