Hilfe zur Selbsthilfe
- Kollegiale Fallberatung baut auf gegenseitige Unterstützung
- Eine Methode für Lehrkräfte, um trotz angespannter Unterrichtssituationen gestärkt den Schulalltag zu bewältigen
- Kostet kein Geld, erfordert aber Mut und Zeit
Was versteht man unter kollegialer Fallberatung?
Hanna Janßen: Eine kollegiale Fallberatung ist ein strukturiertes Beratungsgespräch unter Gleichen. Das kann zum Beispiel ein Kollegium einer Schule sein. Eine Person wird von den übrigen Teilnehmenden beraten. Dabei gibt es Grundsätze – sie erfolgt nach festgelegten Arbeitsschritten und es gibt Gesprächsregeln, beispielsweise nicht bewerten, nicht urteilen und ein Wechseln zwischen Sprechen und Zuhören.
Das klingt nach einer strikten Gesprächskultur.
Absolut! Neben der Tatsache, dass man respektvoll miteinander umgehen soll, sind unterschiedliche Sichtweisen ausdrücklich erwünscht. Ausgangspunkt ist ein Fall oder berufliches Problem, zum Beispiele Konflikte mit Eltern, Schülerinnen und Schülern. Für die Methode gibt es eine klare Rollenverteilung: Neben dem oder der Falleinbringenden gibt es die Gruppe der Beratenden und die moderierende Person, die darauf achtet, dass der Ablauf und die Gesprächsregeln eingehalten werden. Diese Rollenverteilung wechselt von Fall zu Fall.
Wie läuft so eine Beratung konkret ab?
Zunächst wird ein Fall ausgewählt. Wer diesen einbringt, beschreibt die Situation und stellt am Ende eine Schlüsselfrage. Die anderen hören nur zu, ohne Zwischenfragen und Kommentare. Erst im Anschluss äußern die Beratenden ihre Eindrücke blitzlichtartig, während der oder die Falleinbringende zuhört: Es gibt keine Lösungen und keine Nachfragen. Also nur: Wie hat das Gesagte auf mich gewirkt? Jede Phase dauert fünf bis zehn Minuten. Dann leitet der oder die Moderierende über: Jetzt können sachbezogene Nachfragen gestellt werden, die aber keine Hypothesen enthalten dürfen. Dann sind die Beratenden reihum mit einer Hypothesenrunde dran. Sie äußern Vermutungen aus verschiedenen Blickwinkeln. Nach diesen fünf bis zehn Minuten berichtet der oder die Falleinbringende, welche Hypothesen einen Eindruck hinterlassen haben. Dann schlagen die Beratenden Lösungen vor.
Wie gelingt es, einen Fall aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten?
Jede und jeder Beratende äußert sich eigenständig, alle Lösungen stehen nebeneinander und werden nicht bewertet. Es gibt keine Diskussion darüber, welcher Vorschlag der beste ist – auch wenn die Vorschläge ganz konträr sind, muss man das aushalten. Wer den Fall eingebracht hat, wählt ohne Rechtfertigung aus, was hilfreich erscheint. Es ist auch okay, wenn man die Lösungsvorschläge erst mal sacken lassen muss.
Wenn ein Fall besprochen wurde – wie geht es dann weiter?
In der nächsten Sitzung wird gefragt, ob es zu dem vorigen Fall etwas Neues zu berichten gibt. Manche Gruppen halten das auch schriftlich fest. Aber niemand wird gezwungen zu berichten. Wichtig ist, Vertrauen zu erzeugen. Denn es ist nicht einfach, in einer Gruppe von Menschen, die man am nächsten Tag im beruflichen Alltag wieder trifft, über Probleme zu sprechen.
Gibt es weitere Vereinbarungen zu Verschwiegenheit und Vertraulichkeit?
Das ist ein wichtiger Punkt. Es gilt ja sowieso die berufliche Verschwiegenheit bei Lehrkräften. Wir empfehlen trotzdem, dass nicht der volle Name eines Schülers oder einer Schülerin genannt wird. Was in der Gruppe besprochen wird, bleibt dort – das sollte deutlich vereinbart werden.
Wo liegen die Unterschiede zu Supervision und Coaching?
Die Frage ist sehr komplex und man kann sie aus mehreren Blickwinkeln beantworten. Für mich ist der wichtigste Unterschied, dass sowohl bei Supervision als auch im Coaching eine externe Person dazukommt, die nicht zum System Schule gehört. Zum Beispiel psychologische oder pädagogische Fachkräfte mit Zusatzausbildung. Das ist immer mit Kosten verbunden. Dass jemand von außen teilnimmt, kann aber Vorteile bringen. Supervision gibt es auch im Einzelsetting, wenn man berufliche Probleme ohne Kollegen und Kolleginnen besprechen möchte. Kollegiale Fallberatung kostet hingegen kein Geld, nur Mut und Zeit.
Welche Fälle eignen sich für die kollegiale Fallberatung, welche für eine Supervision?
Die Supervision macht oftmals in einem kleinen Kollegium Sinn, in dem eine sehr große Übereinstimmung besteht. Weil es dann schwer fällt, die Perspektive zu erweitern und man hängt in der eigenen Situation fest. In dem Fall hilft die externe Unterstützung. Auch in einem Kollegium, an dem es an Akzeptanz und Wertschätzung fehlt, ist Supervision besser als die kollegiale Fallberatung. Das Schlechteste ist immer, sich gar keine Unterstützung zu holen. Das schadet der Gesundheit und dem Wohlbefinden.
Wie gelingt es, die Fallberatung im Kollegium zu implementieren?
Viele schulpsychologische Dienste bieten an, die kollegiale Fallberatung im Rahmen eines pädagogischen Tages mit erfahrenen Psychologen und Psychologinnen zu erproben. Vielleicht hat sich auch bereits eine Gruppe zusammengefunden und bittet die Schulpsychologie um Hilfe. Um die Fallberatung in der Schule zu etablieren, muss sich jemand vor Ort dafür stark machen, Interessensabfragen vornehmen und sich für die fortlaufende Organisation zuständig fühlen.
Wie lässt sich auch in einem großen Kollegium sicherstellen, dass jede Lehrkraft bei Bedarf an einer Fallberatung teilnehmen kann?
Das funktioniert nur über konkrete Interessens- und Terminabfragen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wöchentliche Treffen für die meisten zu häufig ist. Einmal pro Monat oder alle sechs Wochen einen Termin zu finden ist realistischer. Sonst kann es auch zu einer zeitlichen Belastung führen. Wenn es anfangs viele Fragen gibt, kann man es erst einmal enger takten.
Sie haben einige kollegiale Fallberatungen begleitet. Welche Bedenken haben Beteiligte geäußert?
Es ist für viele Lehrkräfte schwierig, überhaupt erst einmal die Zeit für die Treffen aufzubringen. Der Lehrerberuf hat sich mehr in Richtung psychosozialer Arbeit entwickelt. Ich wünsche mir daher sehr, dass dem stärker Rechnung getragen wird. In vielen anderen pädagogischen Berufen sind solche Methoden in der Arbeitszeit verankert. Für Lehrkräfte ist es „on top“. Daher empfehle ich das Onlineformat, das bei dieser Methode gut funktioniert.
Hanna Janßen war Schulpsychologin im Rhein-Erft-Kreis und vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) anerkannte Supervisorin – mittlerweile ist sie im Ruhestand.