FREI-Räume schaffen
Es ist ein Lernkonzept, das sich vom klassischen Unterricht löst: Beim FREI DAY nehmen die Schülerinnen und Schüler das Zepter selbst in die Hand. Sie entwickeln eigenständig Projektideen und gestalten deren Umsetzung. Lehrkräfte begleiten den Prozess lediglich unterstützend. Ob das funktioniert? pluspunkt stellt zwei teilnehmende Schulen vor.
- Selbstbestimmtes Lernen braucht Gestaltungsspielraum
- Der FREI DAY ermöglicht neue Lernerfahrungen
- Eine neue Rolle für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler
An vier Stunden in der Woche ticken die Uhren an der Hermann- Hedenus-Mittelschule und der Eichendorffschule in Erlangen anders. Dann ist im Stundenplan der FREI DAY verankert – und zwar regelmäßig.
Doch was genau beinhaltet das Lernformat? Haben die Schülerinnen und Schüler „frei“ und dürfen nichts tun? Ganz im Gegenteil! Das Konzept, das 2020 von der Initiative „Schule im Aufbruch“ begründet wurde, gibt Schülerinnen und Schülern den Freiraum, selbstständig und nach ihren eigenen Interessen Projekte zu entwickeln. Ganz ohne Vorgaben, ungeachtet von Lehrplänen, ohne Anleitung durch Lehrkräfte. Dadurch sollen Selbstwirksamkeitserfahrungen erlebbar und das Selbstbewusstsein gestärkt werden. Die Themen erarbeiten die Schülerinnen und Schüler gemeinsam. Als inhaltliche Leitplanken dienen die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen: Ob Projekte zu Umweltschutz, gesunder Ernährung, nachhaltigem Konsum, Frieden, Gleichberechtigung oder Antirassismus – die Schülerinnen und Schüler entwickeln auf freie Art Lösungsansätze zu Herausforderungen unserer Zeit und bekommen so das Gefühl, Verantwortung zu übernehmen. Bundesweit wurde der FREI DAY bereits an mehr als 200 Schulen eingeführt, über alle Schulformen hinweg. Doch was sagen Lehrkräfte zu dieser neuen Art des Lernens?
LEHRKRÄFTE DÜRFEN LOSLASSEN
„Der FREI DAY ist schon eine enorme Umstellung. So ein Tag ist wirklich herausfordernd!“, sagt Christin Nendel, Lehrerin an der Hermann-Hedenus-Mittelschule in Erlangen. „Es war erst mal sehr ungewohnt, die Kontrolle aus der Hand zu geben, aber es lohnt sich.“ Vor allem schätzt die Lehrerin, dass sie beobachten kann, wie ihre Klasse in Prozesse hineinwächst, immer kreativer und mutiger wird. Seit zwei Jahren setzt die inzwischen zehnte Klasse bereits FREI DAY-Projekte um. Am Anfang waren manche noch überfordert von ihrer neuen Rolle und der Verantwortung, Dinge selbst in die Hand nehmen. Zum Beispiel wenn Telefonate geführt werden sollten, um Hilfe oder Spenden zu erfragen. Doch inzwischen wagen sich immer mehr Schülerinnen und Schüler vor und haben ständig neue Ideen. Im Rahmen des FREI DAYS hat die Klasse den Schulteich aufgepäppelt und ein grünes Klassenzimmer im Freien angelegt – Paletten zum Sitzen und ein Lehrpult inklusive. Das Material dafür wurde eigenständig in einem Baumarkt organisiert. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine entstand außerdem die Idee, Streitschlichtende für ein friedvolles Miteinander ausbilden zu lassen. Auch Verkäufe von Snacks wurden durchgeführt – denn ganz ohne Geld lässt sich vieles nur schlecht umsetzen.
„Jede und jeder meiner Schülerinnen und Schüler weiß jetzt, was eine Kalkulation ist, und kennt den Unterschied zwischen Umsatz und Gewinn!“, freut sich Christin Nendel. Das sei Lernen fürs Leben. Eine organisatorische Hürde war lediglich die Zeitplanung, doch hier konnten Absprachen im Kollegium Abhilfe schaffen: „Wir konnten von jedem Unterrichtsfach ein bisschen was wegnehmen und kamen so auf die vier Stunden für den FREI DAY“, erklärt die Lehrerin. „Das Problemdenken findet da eher in unseren Köpfen statt – denn die Schülerinnen und Schüler machen ja nicht vier Stunden lang ,nichts‘, sondern beschäftigen sich mit Themen, die sie wirklich interessieren und sich selbst ausgesucht haben.“
GEMEINSAME LERNERFAHRUNGEN
Doch nicht nur die Schülerinnen und Schüler machen ganz neue Erfahrungen. „Ich finde es besonders spannend, dass ich gemeinsam mit meiner Klasse dazulerne“, sagt Christin Nendel. „Das bedeutet aber auch, dass ich als Lehrkraft beim FREI DAY sehr präsent sein muss. Denn ich weiß nie, welche Fragen kommen und ob ich sie beantworten kann. Es kann schon mal sein, dass ich zugeben muss: Das weiß ich jetzt nicht. Wollen wir das gemeinsam online recherchieren? Oder könnt ihr jemanden fragen?“ Das sei eine neue Rolle – die Lehrkraft müsse bereit sein, ihre „allwissende“ Position aufzugeben und Fragestellungen an die Schülerinnen und Schüler zurückzuspielen. Gleichzeitig schaffe diese Rolle aber auch Nähe, eben weil die Lehrkraft nicht als allwissend auftritt, sondern ermunternd zu Lösungen anregt. „Als Lehrkraft muss man das natürlich wollen und sich dafür öffnen“, betont Christin Nendel. Nach einer FREI DAY-Informationsveranstaltung für die ganze Schule hatte sich das Kollegium deshalb ausgetauscht und beschlossen, dass jeder und jede selbst entscheiden könne, ob und wann er oder sie den FREI DAY umsetzt. Für die Lehrerin überwiegen die Vorteile: „Vor allem profitieren die Schülerinnen und Schüler davon, denn sie werden immer selbstständiger. Meine Klasse hat zum Beispiel allein ihre Abschlussfeier organisiert, das wäre vorher undenkbar gewesen!“
Diese Eindrücke teilen auch die Schülerinnen und Schüler: „Ich finde den FREI DAY sehr gut, weil wir dadurch immer selbstständiger werden. Außerdem können wir viele neue Ideen einbringen und Sachen so gestalten, wie wir es möchten“, sagt die Schülerin Elif. Es würden plötzlich ganz praktische Dinge gelernt, zum Beispiel andere Menschen zu kontaktieren und auf sie zuzugehen, ergänzt Kristian. Auch das Klassenklima habe sich durch den FREI DAY verbessert, beobachtet Lehrkraft Nendel: „Meine Klasse hat gelernt, im Team zu arbeiten, auf andere Rücksicht zu nehmen oder jemanden um Hilfe zu bitten. Das stärkt die Gemeinschaft.“
SKILLS DES 21. JAHRHUNDERTS
An der Eichendorffschule in Erlangen wird der FREI DAY ebenfalls seit bereits zwei Jahren umgesetzt – mit positiver Resonanz seitens der Schülerschaft sowie der Lehrkräfte. Begonnen wurde mit der Einführung in der fünften Jahrgangsstufe, inzwischen sind auch drei sechste Klassen dabei, weitere Jahrgänge sollen folgen. „Allen voran ist sichtbar, was Motivation durch interessenorientiertes Arbeiten bewirkt“, erläutert Lehrerin Sonja Schleicher, die auch Mitglied der erweiterten Schulleitung und FREI DAY-Koordinatorin ist. „Die Schülerinnen und Schüler wachsen vor allem in den Punkten Selbstorganisation, Kommunikationsfähigkeit, Team- und Konfliktfähigkeit – und das sind gefragte Skills des 21. Jahrhunderts!“ Im Rahmen des FREI DAYS stellt ihre Klasse aktuell ein Programm zusammen, bei dem eingeladene Schülergruppen aus anderen Schulen den Foodcube der Eichendorffschule erkunden sollen – eine Aquaponikanlage, die 2023 dank des Förderpreises der Firma Siemens angeschafft werden konnte. Verschiedene Projektgruppen haben sich dazu gebildet, etwa zu den Themen „Ist dieser Salat noch vegan?“ oder „Ohne Sonne nix los“.
Diese autonome Ausgestaltung, ganz nach den individuellen Interessen, kommt bei den Schülerinnen und Schülern besonders gut an: „Mir gefällt, dass wir in selbst gewählten Gruppen arbeiten, Orte außerhalb der Schule besuchen und fremde Menschen kontaktieren können. Auch wenn das anfangs etwas schwerfällt“, sagt Mohamad. „Und ich finde den FREI DAY gut, weil jeder selbst kreativ sein und seine Ideen verfolgen kann“, ergänzt Lena. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt, das zeigen die Ansätze zum „handelnden Erkunden“ des Foodcubes: Eine Projektgruppe möchte die Gäste Wasserproben entnehmen lassen, eine andere einen Salat aus dem Foodcube ernten und mit den Gästen gemeinsam zubereiten und essen. Außerdem soll ein Puzzle entstehen, das das Innenleben eines Karpfens zeigt. „Hier werden die Schülerinnen und Schüler kreativ, da sie sich in die Rolle der Gäste einfinden – denn wer will schon vor einem Foodcube stehen und nur einen Vortrag hören?“, sagt Sonja Schleicher voller Begeisterung.
VERANKERUNG IM STUNDENPLAN – UND IN DEN KÖPFEN
Der FREI DAY bietet somit viele positive und ganz neue Lernerfahrungen für die Schulgemeinschaft – doch wie kompliziert ist die Einführung? „Es ist es zuerst herausfordernd, das passende Format zu finden, das zum Schulkonzept, zur Schülerschaft und den Ressourcen vor Ort passt“, räumt Sonja Schleicher ein „Der FREI DAY wird bei uns deshalb sukzessiv immer um eine Jahrgangsstufe erweitert. Außerdem gibt es bei uns an der Mittelschule auch Kinder, die im Elternhaus nicht durch ein privates Kulturangebot auf der Suche nach ihren Forscherfragen unterstützt werden – der FREI DAY erfordert also auch eine entsprechende Haltung der Lehrkräfte. Es nämlich aushalten zu können, wenn es mal schleppend vorangeht, die Ideen ausgehen oder die Motivation streikt.“ Für den FREI DAY müssten aber auch die Schülerinnen und Schüler umdenken lernen, zum Beispiel weil es keine Noten gibt. Das sei für viele ungewohnt und sorge sogar manchmal für Unmut. „Gerade bei diesem Projekt, das mir so gut gelungen ist, bekomme ich keine Note? Das fordert Erklärungen“, sagt Sonja Schleicher. Doch trotz aller Herausforderungen glaubt sie an den FREI DAY und die Selbstwirksamkeitserfahrungen, die er möglich macht. „Mir gefällt es besonders, zu sehen, wie sich die Schülerschaft für eine Sache begeistert, wie alle ihre Potenziale entfalten. Deshalb bin ich vom FREI DAY überzeugt!“
Über den FREI DAY
Was kostet der FREI DAY?
Für die Einführung des FREI DAYS stellt die Initiative „Schule im Aufbruch“ kostenlose Materialien zur Verfügung, die Tipps und Hilfestellungen liefern. Für den FREI DAY sollten zum Beispiel mindestens vier Stunden pro Woche regelmäßig im Stundenplan festgelegt werden. Die Materialien können bei FREI DAY angefordert werden. So ist jede Schule in der Lage, das Lernformat kostenfrei in Eigenregie umzusetzen.
Ist eine begleitete Einführung möglich?
Für eine begleitete Einführung des FREI DAYS können Informationsveranstaltungen und Workshops für pädagogische Fachkräfte und/oder Schülerschaft und Eltern gebucht werden. Die Kosten dafür variieren je nach Dauer und Art der Veranstaltung und können bei „Schule im Aufbruch“ individuell erfragt werden. Außerdem können sich Schulen für eine Teilnahme am Schulentwicklungsprogramm ihres Bundeslands bewerben: Im Rahmen des fast einjährigen Unterstützungsprogramms wird die Schule schrittweise mit Veranstaltungen und Kick-offs bei der FREI DAY-Einführung begleitet. Die Teilnahme am Schulentwicklungsprogramm ist für Schulen, die Mitglied bei „Schule im Aufbruch“ sind, kostenlos.
Weitere Informationen unter: