„Die Hauptsache ist, überhaupt etwas zu tun“
Gewalt an Schulen belastet nicht nur die betroffenen Schülerinnen und Schüler, sondern setzt auch Lehrkräfte unter enormen psychischen Druck. Wie man mit kritischen Situationen umgeht, weiß Prof. Dr. Ludwig Bilz, Professor für Pädagogische Psychologie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.
- Eine regelmäßige Bestandsaufnahme zur Gewaltbelastung ist wichtig
- Schulleitungen müssen gemeinsame Leitlinien erarbeiten
- Lehrkräfte sollten konsequent einschreiten, je nach Situation auch vereint
Herr Prof. Dr. Bilz, Ende 2023 gab es einige Vorfälle von körperlicher Gewalt auf Schulhöfen, die deutschlandweit für Schlagzeilen sorgten. Nehmen solche Ereignisse zu oder täuscht das?
Dazu gibt es meines Wissens keine aktuellen Erhebungen. Generell ist aber körperliche Gewalt im schulischen Umfeld weniger verbreitet als verbale und psychische Gewalt. Mit Blick auf die Folgen für Betroffene und auch die hohe Verbreitung ist Mobbing, also das wiederholte absichtliche Schikanieren unter Ausnutzung eines Machtungleichgewichts, das relevantere Problem an Schulen.
Lehrkräfte sehen sich bei einer akuten Gewaltsituation oftmals in einem Konflikt: Schnell und direkt einschreiten und sich möglicherweise selbst in Gefahr bringen oder aber Hilfe holen – wie sollte man reagieren?
Es gibt eine Verpflichtung von Lehrkräften, bei Gewalt zwischen Schülerinnen und Schülern einzuschreiten. Das ergibt sich aus der Fürsorgepflicht von Lehrkräften. Wenn man nicht interveniert, kann das zudem als stilles Einverständnis missverstanden werden. Das heißt jedoch nicht, dass sich Lehrkräfte selbst in Gefahr bringen sollen.
Was sollten sie also tun?
Die Hauptsache ist, überhaupt etwas zu tun und das Signal zu senden, dass Gewalt nicht toleriert wird. Wenn sie ein ungutes Gefühl haben, sollten sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in die Situation gehen. Bei schwereren und wiederholten Vorfällen sollten Kolleginnen und Kollegen, Eltern, die Schulsozialarbeit, die Schulpsychologie oder gegebenenfalls auch Externe wie Jugendamt oder Polizei hinzugezogen werden. Das gilt sowohl für psychische als auch für körperliche Gewalt.
Was ist der Unterschied zwischen importierter und innerschulischer Gewalt? Also von außerschulischen Einflüssen wie Familie, Clique und Gesellschaft sowie Faktoren wie beispielsweise Lernkultur und Sozialklima?
Ich warne davor, das so zu differenzieren. Schulen sind keine hermetisch abgeschlossenen Räume, sondern immer ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Umfelds. Manche Schulen haben hier mit größeren Herausforderungen zu kämpfen als andere. Zielführender ist die Frage: Was sind die Stellschrauben, auf die die Schule Einfluss nehmen kann? Wie ist das Sozial- und Lernklima an der Schule und fühlen sich Lehrkräfte und Lernende wohl?
Und ganz wichtig: Gibt es Handlungsleitlinien, wie mit Gewalt und Mobbing an der Schule umgegangen wird? Wie werden Informationen zum Fall eingeholt? Wer wird informiert? Wie wird konkret interveniert? Wo gibt es Unterstützung? Wie wird evaluiert, ob die Intervention erfolgreich war? Wie wird weiterem Mobbing vorgebeugt? Wenn das geregelt ist, muss nicht jede Lehrkraft in jedem Einzelfall neu entscheiden, sondern kann sich auf festgelegte Abläufe berufen.
Welche Rolle spielt die Schulleitung?
Die Schulleitung muss dafür sorgen, dass es an der Schule Handlungsleitlinien für den Umgang mit Gewaltvorfällen und Expertise im Bereich Gewaltprävention gibt. Auch eine regelmäßige Bestandsaufnahme zur Gewaltbelastung, zum Beispiel durch Schülerbefragungen, gehört dazu. Unsere Studien zeigen, dass gerade Mobbing häufig sehr verdeckt unter dem Radar der Aufmerksamkeit stattfindet.
Wie können Lehrkräfte verhindern, dass sie sich im Kampf gegen Gewalt an der Schule selbst völlig überlasten?
Es gibt wenige andere Berufe, die mit ähnlich hohen psychischen Belastungen einhergehen wie der Lehrberuf. Deshalb ist der sorgsame Umgang mit den eigenen Ressourcen ein wichtiger Aspekt der beruflichen Kompetenz von Lehrkräften. Übrigens nicht nur, um die eigene Gesundheit zu bewahren. Studien zeigen, dass das psychische Wohlbefinden von Lehrkräften auch mit der psychischen Gesundheit und den Lernleistungen von Schülerinnen und Schülern in Verbindung steht. Beides bedingt sich wechselseitig.
Aus aktuellem Anlass: Wie sollten Lehrkräfte mit diskriminierender Gewalt, zum Beispiel aus religiösen, rassistischen oder sexistischen Motiven, umgehen – insbesondere auch vor dem Hintergrund der Situation im Ukraine- und Gazakrieg?
Hier gilt dasselbe wie bei allen anderen Gewaltformen: Diskriminierung und herabsetzende Äußerungen über bestimmte soziale Gruppen sind nicht zu tolerieren. Bei politischen Auseinandersetzungen sollten Lehrkräfte nicht versuchen, den Schülerinnen und Schülern ihre eigene Meinung aufzuzwingen. Im besten Fall wird ein solcher politischer Konflikt mit allen Hintergründen im Unterricht thematisiert, wobei man sich bemühen sollte, alle Positionen gleichberechtigt darzustellen. Auf dieser Grundlage können sich die Kinder und Jugendlichen umfassend informieren und selbstbestimmt ihre eigene Meinung bilden.
Zur Person:
Prof. Dr. Ludwig Bilz ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und Psychologischer Psychotherapeut. Er forscht mit seinem Team zu Themen wie Schüler- und Lehrkräftegesundheit, Mobbing und Hatespeech an Schulen.