„Bewegung nützt dem Kopf“
Viele Kinder und Jugendliche bewegen sich im Alltag zu wenig. Wie Schulen das ändern können, warum die Begeisterung einzelner Lehrkräfte wichtig ist und wie sich Bewegung positiv auf den Lebensstil, das Schulklima und die Lernerfolge auswirkt, erklärt Hermann Städtler, Leiter des Programms „Bewegte, gesunde Schule Niedersachsen“.
- Besser lernen durch mehr Bewegung
- Pausen- und Unterrichtszeiten anpassen
- Verbindliche Regelungen zur Handynutzung einführen
Herr Städtler, wie lässt sich mehr Bewegung in den Schulalltag integrieren?
Zunächst ist es wichtig, sich auf die zentrale Bedeutung der Bewegung als Entwicklungsbegleiter für jedes Alter zu besinnen. Erst dann entsteht eine förderliche Haltung bei den Erwachsenen, denn sie sind als Eltern und Lehrkräfte dafür zuständig, wie viel Bewegung im Tagesablauf der Heranwachsenden zugelassen wird. Bewegung kann nicht nur im Unterricht, sondern im gesamten Schulalltag gefördert werden. Das fängt schon morgens mit dem Schulweg an. Oft bringen Eltern ihre Kinder mit dem Auto direkt bis vor den Schuleingang, statt ihnen etwas frische Luft und Alltagsbewegung zu gönnen. Deswegen sollten Schulen um ihre Gebäude eine zeitlich begrenzte autofreie Zone von mindestens 500 Metern festlegen, sodass die jungen Menschen das letzte Stück gemeinsam zu Fuß gehen können.
Das Konzept der Bewegten Schule ist nicht neu. Wie lassen sich Schulen davon überzeugen, es umzusetzen?
Viele Lehrkräfte sind immer noch der Ansicht, dass man nur im Sitzen richtig lernen kann. Dass dies ein Irrtum ist, beweisen die Ergebnisse der Lern- und Hirnforschung. Bewegung nützt dem Kopf und sorgt dafür, dass alle Ressourcen des Menschen angesprochen werden. Es sollte im Unterricht um die Balance zwischen Aufmerksamkeit, Konzentration und Entspannung gehen. Dies gelingt am besten mit einem Konzept, dass die Eigentätigkeit der Schüler und Schülerinnen priorisiert. Und dann ist Bewegung als grundlegendes Potenzial immer dabei. Bewegung fördert zudem die Gesundheit von Lernenden und auch von Lehrerinnen und Lehrern. Schulleitungen nehmen hier eine Schlüsselrolle ein. Nur eine Schulleitung, die davon überzeugt ist, wie wichtig Bewegung im Alltag ist, schafft es, die Handelnden in der Schule zu unterstützen. Bewegung beginnt in den Köpfen von Verantwortlichen.
Was heißt das konkret?
Wenn eine Schule daran interessiert ist, mehr Bewegung in den Schulalltag zu bringen, müssen hinderliche Rahmenbedingungen weichen. Es ist wichtig für das Schulklima, dass sich jede Schule klar positioniert, verbindliche Regeln zusammen mit den Schülerinnen und Schülern aufstellt und diese konsequent umsetzt. Das betrifft etwa die Regelung der Handynutzung in den Pausen und im Unterricht. Jugendliche benötigen genügend Zeit, um in Bewegung kommen zu können. Das bedeutet eine Bewegungspause von wenigstens 25 Minuten. Einige Schulen haben deswegen ihren Rhythmus von Unterricht und Pause verändert und Unterrichtsstunden von 30, 75, 80 und 90 Minuten eingerichtet. Ich empfehle dringend, Mobiltelefone zumindest in einer der großen Pausen und auch im Unterricht abgeben zu lassen, denn Handys verhindern Bewegung.
Wie können Lehrkräfte das umsetzen?
Über klare und nachvollziehbare Regeln. Die Regel kann lauten, dass das Handy zum Beispiel nur in der ersten der beiden großen Pausen benutzt werden darf. Es geht nicht um ein komplettes Handyverbot, sondern darum, den Gebrauch zu reduzieren. Egal, wie verschüttet der Bewegungsdrang unserer Heranwachsenden ist, wir können ihn durch passende Bewegungsangebote wieder aktivieren. Sobald Bälle, Frisbeescheiben oder Tischtennisplatten da sind, werden sie auch genutzt.
Mehr Bewegung in Schulen – welche Empfehlungen gibt es noch?
Ich empfehle, in den Pausen das Essen und Trinken von der Bewegung zu trennen. Auch für das Mittagessen sollten separate Zeiträume zur Verfügung stehen. Essenszeit ist immer als Lernzeit zu verstehen, denn es geht um die Aneignung von gesundheit-lichen Lebensgewohnheiten. Zudem empfehlen wir regionale Koopera-
tionen mit Sportvereinen, vor allem bei Schulen mit einem Ganztagsbetrieb. Viele Vereine bieten Trendsportarten an, die für Jugendliche interessant sind. Außerdem kann eine Vertretungsstunde für Bewegung genutzt werden. Oft reichen einfache und von den Schülerinnen und Schülern mitgebrachte Kleingeräte aus, um dem Bewegungsdrang zu entsprechen.
Wie wichtig ist eine ergonomische Ausstattung in der Schule?
Die Ergonomie spielt eine bedeutende Rolle im Konzept der bewegten, gesunden Schule. Dazu gehören bestenfalls höhenverstellbare Stühle und Tische, Stehpulte, Liegearbeitsflächen auf Podesten oder auf dem Boden mit Matten oder Teppichen ausgelegt, aber auch ein angemessenes Raum-Klima. Licht, Akustik und farbliche Gestaltung haben direkte Auswirkungen auf ein konzentriertes und gesundes Lernen. Außerdem sollte es Nischen, Lerninseln, Zwischenräume und Ecken zum Rückzug und für individuelles Lernen geben. Die Lehrkräfte können mit gutem Beispiel vorangehen, an einem höhenverstellbaren Stehtisch arbeiten und auf das traditionelle Pult verzichten. Flexible Tafelsysteme können diese zeitgemäßen Unterrichtsformen stützen, die das forschende, individualisierte Lernen an verschiedenen Orten im Klassenraum in den Mittelpunkt stellen. Ich bin mir bewusst, dass das alles in vielen Schulen momentan fernab jeglicher Realität ist, aber in diese Richtung muss es in Zukunft gehen.
Vorne wäre also nicht mehr zwangsläufig dort, wo die Lehrkraft referiert?
Ja, die Zentrierung auf einen Frontal-Punkt zugunsten differenzierter Lernszenarien würde entfallen. Sofern Lehren und Lernen noch nicht in Lernlandschaften mit flexibler Minimalmöblierung stattfindet, sondern weiterhin in normierten einengenden Klassenräumen mit Übermöblierung, kann man dennoch mit einigen Maßnahmen viele Quadratmeter für Bewegungsaktivitäten gewinnen: zum Beispiel durch die Wahl geeigneter Tischformen und -größen, durch ergonomische Stühle auf Rollen und durch den Verzicht auf unnötige „Vorratsschränke“. Auch was die ergonomische Ausstattung von Arbeitsplätzen und -zimmern für Lehrkräfte angeht, gibt es noch einen hohen Umsetzungs- und Nachholbedarf.
Steigt nach Ihrer Erfahrung in Schulen mit einer bewusst aktiven und bewegten Unterrichts- und Pausengestaltung das Risiko für Unfälle?
Im Gegenteil. Ich war 26 Jahre lang Schulleiter einer bewegten, gesund ausgerichteten Schule. Der Umgang mit Risiko und Wagnis war Wegbegleiter aller Schülerinnen und Schüler bei der Bewältigung von herausforderungsreichen Kletter-, Balancier-, Spiel- und sozialen Situationen. Die Erfahrung zuzulassen und auch das Risiko eines kleinen Unfalls mitzutragen, bestimmte unsere Haltung als Pädagoginnen und Pädagogen. Wir haben gemerkt, dass es darauf ankommt, Kindern die Verantwortung für ihr eigenes Verhalten zuzutrauen, statt nur auf gute Verhältnisse zu setzen. Mein Fazit: Das Anforderungsniveau des Freiraums hat Einfluss auf die Selbstsicherungsfähigkeit der Kinder. Bei Unterforderung steigt das Verletzungsrisiko, weil die Selbstsicherungsmechanismen wegen des scheinbar geringen Risikos nicht „anspringen“, bei Anforderung hingegen sind Selbstsicherungsmechanismen hoch aktiv.
Wie kann die Gestaltung der Innen- und Außenräume einer Schule dazu beitragen, Bewegung zuzulassen, zu fordern und zu fördern?
Zunächst ist die Haltung eines Kollegiums zu Bewegung dafür zuständig, ob Bewegung bei ihren Schülerinnen und Schülern entstehen kann. Dies beginnt schon im Vorbildverhalten der Lehrkräfte, ob sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen, Treppen zu Fuß steigen oder auch einmal selbst Lust haben, sich gemeinsam mit ihrer Klasse zu bewegen. Es wimmelt von Bewegungschancen, wenn man sie sehen will. Wie wäre es mit Hangelstrecken im Flur, mit Hüpfsteinen auf dem Weg zur Sporthalle, mit einem Umweg über „Himmel und Hölle“, mit herausfordernden Klettergelegenheiten oder mit dem Schwindel-Dreh? Für mehr Leichtigkeit beim Lernen und Lernerfolg.
Welche baulichen Rahmenbedingungen bringen hier Vorteile, welche eher Nachteile?
Die Kommunen definieren Raumbedarfe nach wie vor im Kontext tradierter Normen, die unter anderem die Klassenraumgröße, die Möblierung pro Schülerin beziehungsweise Schüler und Klassenraum vorgeben, ohne zeitgemäße Schulentwicklungen wirkungsvoll wahrzunehmen. Die Außenräume führen ein Schattendasein und werden nach wie vor als Leerräume unterbewertet, obwohl auch die Schülerinnen und Schüler in diesen unwirtlichen Räumen Bewegung verlernen. Die Normen prägen wider besserer Erkenntnisse immer noch Planungsprozesse. Erfreulicherweise gibt es Beispiele, wie zeitgemäßes Lehren und Lernen in bereichernden Lernumgebungen gelingen kann. Diese Erkenntnisse bei Neubauten nicht zu berücksichtigen, wäre (bildungs-)fatal .
BEWEGTE SCHULE
Das Programm „Bewegte, gesunde Schule Niedersachsen“ fördert ganzheitliches Lernen und liefert Impulse zur Schulentwicklung. Die Umsetzung erfolgt in den drei Handlungsfeldern „Lehren und Lernen“, „Schule steuern und organisieren“ und „Lern- und Lebensraum Schule“.
www.bewegteschule.de
Hermann Städtler, Leiter des Programms „Bewegte, gesunde Schule Niedersachsen“, war 26 Jahre lang Schulleiter der Fridtjof-Nansen-Schule in Hannover.