Wieso spielen positive Emotionen beim Lernen eine so wichtige Rolle?

„Emotional ansteckend“

Wieso sollte Selbstwirksamkeit im schulischen Umfeld gefördert werden? Wie können selbstwirksame Erfahrungen zu einer positiven Lerneinstellung, zur mentalen Gesundheit und einem guten Miteinander beitragen? Über das Konzept der Positiven Bildung, in dem Selbstwirksamkeit eine tragende Rolle spielt, sprach pluspunkt mit Prof. Dr. Ulrike Lichtinger, Professorin der Sozialwissenschaften.

INTERVIEW Sabine Biskup, Redakteurin Universum Verlag | FOTOS Kiattisak– stock.adobe.com, privat| DATUM 05.11.2024

Frau Prof. Dr. Lichtinger, Sie sind Expertin im Bereich der Positiven Bildung und bringen das Konzept an Schulen in Deutschland und Österreich. Was ist für Sie Positive Bildung und welche Rolle spielt darin die Selbstwirksamkeit?
Positive Bildung ist ein Konzept, das die Gesundheit und das Wohlbefinden aller Menschen im System Schule in den Fokus rückt. Selbstwirksamkeit ist ein wesentlicher Teil davon. Wir arbeiten mit dem PERMA-Modell, das fünf Faktoren für das Wohlbefinden nennt: P steht für positive Emotionen, E für Engagement (Stärken einsetzen), R für Relationship (gute Beziehungen), M für Meaning (einen Sinn erleben) und A für Achievement (die Zielerreichung). Ich glaube, dass Selbstwirksamkeit besonders in dem Faktor Engagement zum Tragen kommt: Selbstwirksamkeit bezeichnet das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Aufgaben oder Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können. Dieses Vertrauen fördert wiederum Motivation, Durchhaltevermögen und Leistungsfähigkeit. Außerdem ist Selbstwirksamkeit mit dem Faktor A – der Zielerreichung – verbunden. Denn wenn wir Erfolge verbuchen können, stärkt das unser Gefühl von Selbstwirksamkeit ungemein.

Wie lässt sich Selbstwirksamkeit in der Schule fördern?
In der Positiven Bildung haben wir zwei Ansatzpunkte. Der eine liegt darin, Erfolge zu feiern, denn das ist ein ganz wesentlicher Punkt für Wohlbefinden und Gesundheit: die positiven Emotionen. Selbstwirksamkeit ist ja einerseits eine Erfahrung, die einen kognitiven Mehrwert hat, besitzt aber auch eine emotionale Komponente. Der zweite Ansatzpunkt ist das Fokussieren auf Stärken. Damit meinen wir nicht unbedingt Talente fördern, sondern das Ermutigen jedes und jeder Einzelnen, die eigenen Stärken zu sehen und einzubringen. Damit fördern wir auch das positive Autonomieerleben.

Was kann eine Lehrkraft tun, um die Selbstwirksamkeit von Schülerinnen und Schülern zu stärken?
Natürlich sind Projekte eine gute Möglichkeit, um Selbstwirksamkeit zu fördern, weil sie ein anderes Autonomieerleben ermöglichen als der stärker geführte Unterricht. Doch auch kleine Schritte können schon etwas bewirken: Wir nennen das tiny habits. Lehrkräfte können Schülerinnen und Schüler zum Beispiel aus einem Angebot von Aufgaben wählen oder individuell über ihre Lösungsmethode entscheiden lassen, über Einzel- oder Gruppenarbeit. Sie können im täglichen Unterricht verschiedene kleine Freiheiten zulassen.

Sehen Sie in diesem Zusammenhang auch eine Schnittmenge zur Gewaltprävention?
Absolut, im PERMA-Modell gibt es auch den Faktor R – für Relations – das bedeutet, ein gutes Miteinander ist in der Positiven Bildung ebenso wichtig. Deshalb legen wir großen Wert auf Sensibilität und Sprache. Auch hier können schon kleine Maßnahmen wirken, zum Beispiel, sich einfach mal die Zeit zu nehmen, sich ganz bewusst ins Gesicht zu schauen, für wenige Sekunden. Da entsteht schon eine erste Verbindung, oder es vertieft eine bestehende Verbindung.

Positive Bildung und Selbstwirksamkeit können also die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden fördern?
Ja, wenn wir an Wohlbefinden denken, sind die positiven Emotionen ausschlaggebend, das zeigt auch die Forschung. Heute ist das umso wichtiger, weil wir täglich mit viel Negativität konfrontiert werden, einfach durch viele negative Informationen und die digitalen Einflüsse. Das kann im Menschen alte Reaktionsmuster aktivieren:  fight oder flight – oder sogar freeze. Das erlebe ich manchmal auch bei Kolleginnen und Kollegen. Sie fangen an, einzufrieren, weil sie denken, „Wir tun alles, was wir können, und die Ergebnisse bei der PISA-Studie werden trotzdem schlechter“. Sie fühlen sich schwer und handlungsunfähig. Wir brauchen also positive Emotionen, um für die Zukunft handlungsfähig zu sein. Sie führen auch zu mehr Kreativität bei Problemlösungen. Positive Bildung kann uns so befähigen, von der Zukunft zu träumen und sie auch mit zu entwickeln.

Sie bieten unter anderem Coachings für Lehrkräfte und Impulsvorträge an – was kann das Fachpersonal dort erfahren?
Meine Impulsvorträge sind auch mit kleinen Übungen und Aktivitäten verbunden, damit erlebbar wird, wie man Positive Bildung in die Umsetzung bringen kann. Meine Coachings richten sich an Lehrkräfte, aber auch an Schulleitungen, wo wir dann auf eine strategische Schulentwicklung eingehen. Ich spreche bei Veranstaltungen, welche die Ministerien initiieren, bekomme aber auch Einzelanfragen von Schulen, um das gesamte Kollegium für das Thema positive Bildung zu sensibilisieren.

Wie ist die Resonanz der Teilnehmer auf das Konzept der Positiven Bildung?
Die Resonanz ist unglaublich, nicht nur bei den Lehrkräften, sondern auch bei der Schulaufsicht, hinauf bis in die Ministerien. Das ist wichtig, weil die schulische Organisation Top-down funktioniert. Das heißt, man muss die Führungspersonen mit ins Boot holen, und das passiert gerade. Ich bin in verschiedenen Bundesländern in Deutschland im ministeriellen Bereich aktiv, und in Österreich gab es im letzten Jahr ein Projekt, bei dem wir an rund 20 Schulen Interventionsmaßnahmen anhand von PERMA eingeführt haben. Jetzt ist auch ein Anschlussprojekt gestartet mit 90 ersten Klassen und über 1200 Schülerinnen und Schülern, wo es darum geht, das Ganze noch systematischer aufzusetzen. Außerdem möchten wir das Konzept in die Kindergärten bringen.

Welche Rolle spielen Lehrkräfte in dem Prozess, Positive Bildung und Selbstwirksamkeit zu stärken?
Wir möchten, dass Lehrerinnen und Lehrer selbst wachsen, um diese Konzepte professionell ins Feld bringen zu können. Es geht aber auch darum, das Ganze spielerisch zu sehen. Diese Playfulness spielt eine ganz große Rolle. Wir können erst mal an kleinen Schräubchen drehen, und dann werden wir vielleicht mutiger und starten mit den nächsten. Nur über solche Erfahrungen können wir mehr Freiheiten zulassen. In der Interventionsforschung beobachten wir übrigens auch, dass es insbesondere auf die Menschen ankommt, dass sie positiv gestimmt sind – denn dann sind sie emotional ansteckend.

Haben Sie einen Appell oder einen Wunsch, den Sie zu dem Thema äußern möchten?
Ich habe eigentlich keinen Wunsch, ich möchte vielmehr ermutigen. Ich merke, das gelingt am besten, wenn wir sagen: „Habt keine Angst, fangt einfach mit den kleinen Dingen an, die für euch wichtig sind.“ Ich möchte – bildhaft gesprochen – die Menschen an die Hand nehmen, ihnen die Blumenwiese der Positiven Bildung zeigen, sie auf gewisse Blumen hinweisen, sie aber dann wieder loslassen, denn ich bin ja selbst nicht an der Schule. Doch ich sehe ja, was mit den Menschen passiert, die den Weg der Positiven Bildung beschreiten: dass sie aufblühen, ihre Potenziale entfalten und sich daran erfreuen. Das ist sehr wichtig, nicht nur für die Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch für die Nachfolgegeneration.

PRAXIS-TIPPS

    • Tiny habits: Regen Sie mit kleinen Gewohnheiten die Selbstwirksamkeitserfahrungen der Schülerinnen und Schüler an, etwa indem diese aus Aufgaben oder Themen wählen können.
    • Playfulness Gehen Sie das Ganze spielerisch an und geben Sie ein wenig Kontrolle ab, zum Beispiel, indem Sie Schülerinnen und Schülern kreative Lösungswege erlauben.
    • Selbstreflexion Stärken Sie selbstwirksames Denken, indem Sie mit der Frage einsteigen: „Was ist eine kleine Sprosse auf deiner persönlichen Entwicklungs- und Erfolgsleiter, die du heute nehmen kannst, um etwas Großes zu erreichen?“
Welche kleine Sprosse auf deiner persönlichen Entwicklungsleiter kannst du heute nehmen?

Prof. Dr. Ulrike Lichtinger

Prof. Dr. Ulrike Lichtinger arbeitet am Regensburger Standort der International University (IU), der größten deutschen Hochschule mit derzeit über 140.000 Studierenden weltweit. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Positiver Psychologie und Positiver Bildung. Als Research and Practice Lead of Positive Education der International Positive Psychology Association (IPPA) wirkt sie an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis. Mehr Infos: www.ulilichtinger.de