„Spüren die Folgen der Pandemie massiv“
Viele Schülerinnen und Schüler haben infolge der Coronapandemie soziale Kompetenzen eingebüßt, leiden unter Ängsten und können sich schlecht konzentrieren. Und auch die Lernrückstände sind längst nicht aufgeholt.
- Pandemiebedingte Lernrückstände sind in allen Schulformen zu beobachten
- Viele Schülerinnen und Schüler weisen zudem geringe sozial-emotionale Kompetenzen auf
- Mit Förderprogrammen vor Ort können Schulen das Aufholen erleichtern
Zwar wurde die Coronapandemie offiziell längst für beendet erklärt, doch an Schulen kann davon keine Rede sein: „Wir spüren die Folgen ganz massiv“, sagt die Leiterin der Geschwister-Scholl-Schule in Langen, Manuela Mück. Das gelte vor allem für die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder: In der Grundschule täten sich viele Schülerinnen und Schüler sehr schwer damit, ihre Emotionen zu kontrollieren, Grenzen zu akzeptieren und sich in die Klasse einzufinden. „Es gibt überdurchschnittlich häufig Konflikte.“ Auffällig sei, dass sich viele Kinder nur schlecht konzentrieren könnten. „Oft müssen Kompetenzen, die vor Corona bereits in der Kita erworben wurden, erst noch gelernt werden“, bemerkt Manuela Mück.
Alle Schulformen betroffen
Was Lehrkräfte tagtäglich im Schulalltag erleben, belegen Studien: Die Pandemie hat bei Schülerinnen und Schülern tiefe Spuren hinterlassen. So hat zum Beispiel eine ministeriumsübergreifende Arbeitsgruppe der Bundesregierung die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche untersucht. „73 Prozent der jungen Menschen sind auch durch die Einschränkungen während der Pandemie bis heute enorm gestresst“, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus bei der Vorstellung des Abschlussberichts im vergangenen Jahr. Geschlossene Kitas und Schulen, fehlende soziale Kontakte, Lernlücken, mangelnde Bewegung, ausgefallene Klassenfahrten und Abifeiern: Das mache sich unter anderem bemerkbar in Lernrückständen und einer Zunahme von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. „Wie so oft trifft es Kinder aus finanziell schwächer gestellten Familien besonders hart: Kinder von Alleinerziehenden, aus Familien mit Migrationshintergrund, diejenigen, die in beengten Wohnverhältnissen leben oder psychisch belastete Eltern haben“, so die Familienministerin.
Zwar gehen die psychischen Belastungen etwas zurück, doch von Entwarnung kann keine Rede sein: Im dritten Jahr seit Beginn der Pandemie war die Lebensqualität bei drei von zehn Mädchen und Jungen weiterhin getrübt, wie die COPSY-Studie – kurz für Corona und Psyche – der Universität Konstanz in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in ihrer fünften Befragungswelle aufzeigt. Vor der Coronakrise traf dies auf zwei von zehn zu. Auch der Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit kommt zu dem Ergebnis, dass sich die psychischen Erkrankungen auf hohem Niveau eingependelt haben. Leichte Rückgänge in den ambulanten und stationären Behandlungszahlen bedeuteten nicht, dass „jetzt alles wieder in Ordnung ist“, stellt der Report klar. „Im Gegenteil: Das Leiden vieler Kinder und Jugendlichen verfestigt sich.“ Am stärksten betroffen von Depressionen, Angst- und Essstörungen sind Mädchen im Teenageralter. So stieg die Zahl der Mädchen, die wegen Angststörungen behandelt werden, um 44 Prozent im Vergleich zu 2019 vor der Pandemie. Bei Essstörungen liegt das Plus sogar bei 51 Prozent.
Alarmierende Lernrückstände
Auch die Lernrückstände sind noch lange nicht aufgeholt, wie unter anderem die aktuelle PISA-Studie drastisch vor Augen führt: Demnach sind die Kompetenzen in Lesen und Mathe in Deutschland so schlecht wie nie. Ein Viertel der Jugendlichen kann nicht gut genug lesen, fast ein Drittel erreicht nicht die Mindestanforderungen in Mathe. „Die Zahlen sind in vielerlei Hinsicht alarmierend“, betont Angelika Sichma, Projektverantwortliche für das Deutsche Schulbarometer. In der Befragung bezeichnete jede dritte Lehrkraft das Verhalten der Schülerinnen und Schüler aktuell als größte Herausforderung. Weitverbreitet sind vor allem Konzentrationsprobleme (81 Prozent), Motivationsschwierigkeiten (70 Prozent), Unruhe (56 Prozent) und Ängste (31 Prozent).
Schon während der Pandemie zeichnete sich ab, dass Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zunehmen. Dieses Problem hält weiter an. Sichma ist davon überzeugt, dass die Defizite nicht in kurzer Zeit zu beheben seien. Wichtig ist ihrer Meinung nach, dass Förderprogramme in den Schulen vor Ort und während der eigentlichen Schulzeit stattfinden. Es gelte, die Hürden vor allem für Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Milieus so niedrig wie möglich zu halten. Deshalb müsse vermieden werden, dass die Kurse in der Freizeit stattfänden und Kinder dafür weite Wege zurücklegen müssten.
FÖRDERN IN AGS UND INDIVIDUELL
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat zwei Milliarden Euro für das Förderprogramm „Aufholen nach Corona“ bereitgestellt. Daraus ist beispielsweise in Hessen das Landesprogramm „Löwenstark“ hervorgegangen. „Damit können wir viel auffangen“, sagt Schulleiterin Manuela Mück. Die Grundschule in Langen finanziert damit unter anderem Sportkurse und Leseförderung. Vor allem versuchen die Lehrkräfte, die Kinder viel stärker individuell zu fördern. Deshalb hat die Schule eine Lernzeit eingeführt. Statt die Aufgaben allein zu Hause zu erledigen, erhalten die Kinder in der Schule bei Bedarf professionelle Unterstützung. Dadurch wird die Chancengleichheit aller Schülerinnen und Schüler gestärkt, unabhängig vom
Elternhaus. „So können wir viel besser schauen, was die einzelnen Kinder brauchen“, betont die Schulleiterin. Bewährt habe sich bei sprachlichen und sozial-emotionalen Schwierigkeiten die Arbeit in kleinen Gruppen mit jeweils nur drei bis maximal sechs Lernenden.
Routinen wiederfinden
Die Schulpsychologin Johanna Almon vom Staatlichen Schulamt für den Main-Kinzig-Kreis ist für das Programm „Löwenstark“ an Schulen im Einsatz. „Während der Pandemie sind viele Routinen eingeschlafen. Im Sportverein aktiv sein oder zu Fuß zur Schule laufen? Das hat alles brachgelegen“, sagt sie. Das gelte beispielsweise auch für die Frage, wie ein gesundes Frühstück auszusehen habe. Deshalb böten einige Schulen jetzt Ernährungsberatungen oder Koch-AGs an.
Außerdem steht in vielen Klassen die mentale Gesundheit auf dem Stundenplan. So fördert etwa das Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) als Konsequenz aus dem Abschlussbericht in einem Modellprojekt sogenannte „Mental Health Coaches“, die Schulen besuchen und dort zum Thema psychische Gesundheit aufklären. Auch Johanna Almon betont, wie wichtig es ist, dass Kinder schon in der Grundschule lernen, mit Stress umzugehen. „Sie sollen lernen wahrzunehmen, wenn es ihnen nicht gut geht – und was dagegen hilft.“ Zum Beispiel durch Atemübungen zur Ruhe zu kommen. Generell sollten Lehrkräfte keine Scheu haben, sich Unterstützung zu holen – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule. Ob Schulpsychologie, Vertrauenslehrkräfte, Schulsozialarbeit oder Förderlehrkräfte: „Oft gibt es gute Ressourcen an Schulen.“
Dass neben Bildungstagen, Projektwochen oder Klassenfahrten insbesondere AGs eine gute Möglichkeit bieten, die Kinder mit Blick auf ihre sozialen Kompetenzen zu fördern, betont auch Schulleiterin Manuela Mück: „Von Sprache bis Sport.“ Ihre Grundschule setzt dabei auf multiprofessionelle Teams, bindet die Schulsozialarbeit eng ein und holt Vereine ins Boot. „Wichtig ist vor allem, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen. Das ist so wertvoll.“ Der Kontakt sei in der Pandemie viel zu kurz gekommen. Nach Ende der Einschränkungen seien die Kinder dankbar für das, was vorher normaler Alltag war, sagt Manuela Mück: „Sie sagen uns immer wieder, wie gerne sie in die Schule gehen!“
Manuela Mück ist Leiterin der Geschwister-Scholl-Schule in Langen.
Johanna Almon ist Schulpsychologin beim Staatlichen Schulamt für den Main-Kinzig-Kreis.