Die Radfahrschule
Wie weit eine gelungene Verkehrserziehung Schülerinnen und Schüler bringen kann, beweist eine Mittelschule im Herzen von München: Dort lernen die Jungen und Mädchen alles, um sich im Straßenverkehr per Fahrrad sicher zu bewegen – kleinere Reparaturen inklusive. Einige haben es mit ihren Lehrkräften sogar bis über die Alpen geschafft.
- Münchner Mittelschule setzt auf innovative Verkehrserziehung
- Viele Angebote auch für fahrradferne Schülerinnen und Schüler
- Selbstbefähigung dank Theorie, Praxis und Reparaturanleitung
Wenn wir in den Klassen fragen, wer ein Fahrrad besitzt, gehen oft nur drei oder vier Finger nach oben“, sagt Philipp Goldner. Er ist Konrektor und Koordinator Mountainbike an der Mittelschule München an der Wittelsbacherstraße. „Viele von ihnen kommen aus fahrradfernen Familien.“ Dass die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Verkehrserziehungsprojekt schwierig sind, hat das Team um Philipp Goldner und Schulleiter Ulrich Gierer angespornt. Der Lohn: Im Sommer 2022 wurde die Mittelschule mit dem Förderpreis der Landesverkehrswacht Bayern und der TÜV SÜD Stiftung ausgezeichnet – für ein Komplettpaket in Sachen „Verkehrserziehung für einen sicheren Umgang mit dem Fahrrad im Straßenverkehr“. Es geht also doch. Aber der Reihe nach.
Baustein 1: Der Bikepool
Die Mittelschule liegt im Herzen Münchens im Stadtteil Isarvorstadt, der idyllische Isar-Radweg ist nur einen Steinwurf entfernt. „Wir haben eine der schönsten Radstrecken direkt vor der Tür“, sagt Schulleiter Ulrich Gierer. „Weil der sportliche Bereich fest im Schulprofil verankert ist, wollten wir auch Radfahrten entlang der Isar ermöglichen.“ Also bewarb sich die Schule schon 2007 bei der Landesstelle für Schulsport (Laspo) um einen Bikepool. Ergebnis: 15 Mountainbikes wurden finanziert, der Grundstein war gelegt. 2019 kamen dank der Mithilfe zweier Münchner Stiftungen 15 neue Mountainbikes dazu. „Es ist extrem hilfreich, schuleigene Fahrräder anzuschaffen, am besten desselben Modells“, sagt Lehrer Manuel Hofer, der sich von Anfang an für das Fahrradprojekt stark gemacht hat. „Selbst wenn genügend eigene Räder mitgebracht würden: Das wären verschiedene Modelle, Reifengrößen, Schaltungen. So viel Pannenwerkzeug und Ersatzteile können Sie bei einer Radausfahrt gar nicht mitnehmen.“
Baustein 2: Radeln statt wandern
„Mit jeder Erfahrung im Straßenverkehr steigt die Sicherheit unserer Schülerinnen und Schüler“, sagt Schulleiter Ulrich Gierer.“ – ULRICH GIERER, SCHULLEITER
„München ist eine Radlstadt“, sagt Ulrich Gierer. „Trotzdem kommen die meisten unserer Schülerinnen und Schüler mit öffentlichen Verkehrsmitteln hierher.“ Denen, die überhaupt ein Rad besitzen, sei der Weg zu weit, fehle die Übung oder sie fühlten sich im Straßenverkehr nicht sicher. Der Ansatz der Mittelschule, um Unsicherheit, Hemmungen und auch Bequemlichkeit abzubauen: „An Ausflugstagen wandern wir nicht, wir radeln“, erklärt der Schulleiter. „Dabei bringen wir Theorie und Praxis zusammen, regelmäßig und für alle Klassen.“
Um unterwegs die Übersicht und Sicherheit zu gewährleisten, werden die Klassen geteilt. Jede der maximal 14-köpfigen Radgruppen begleiten jeweils zwei Lehrkräfte, mindestens eine besitzt die – für solche Ausfahrten aber nicht zwingend erforderliche – radsportspezifische Trainer-C-Lizenz. „Das können wir gut abdecken“, sagt Ulrich Gierer. „Im Rahmen einer Kooperation mit dem Deutschen Alpenverein haben sechs Lehrkräfte diese Trainerlizenz in einem einwöchigen Kurs erworben. Sie bilden das Radteam in unserem Kollegium.“
Bevor die Gruppen vom Schulgelände in den Straßenverkehr starten, erhalten alle auf dem Pausenhof eine zweistündige Trainingseinheit in Theorie, Technik und Verkehrssicherheit. „Im 45-minütigen Theorieteil geht es um gefährliche Situationen im Straßenverkehr, Verkehrsschilder und -regeln“, erklärt Philipp Goldner. Altersabhängig werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. „Die Jahrgangsstufen 5 und 6 sensibilisieren wir für die Helmpflicht und umsichtiges Verhalten, besonders in der Gruppe.“ In den Jahrgangsstufen 7 und 8 liege das Augenmerk auf sicherem Überholen und dem toten Winkel. Die Jahrgangsstufe 9 erkunde und bespreche Unfallschwerpunkte im Einzugsgebiet und berechne Bremswege. „Im Bereich Technikschulung machen dann alle Bremsübungen, fahren durch einen Slalomparcours oder über kleine Hindernisse“, erklärt Philipp Goldner. „Außerdem üben wir die notwendigen Handzeichen.“
Wohin die Route führen soll, können die Klassen mitentscheiden – solange die Strecke altersgemäß ist. „Mit den jüngeren Jahrgängen fahren wir auf möglichst verkehrsfreien Routen“, betont Ulrich Gierer. „Mit den siebten und achten Klassen üben wir das sichere Bewegen auf Radwegen, ab Jahrgangsstufe 9 steht der Straßenverkehr im Mittelpunkt.“ Ganz wichtig, wie nach einer Klassenarbeit: die Nachbesprechung. Wenn die Gruppe wieder den Schulhof erreicht hat, werden besondere Vorkommnisse besprochen. Wo gab es gefährliche Situationen? Wann habt ihr euch unsicher gefühlt? Was können wir besser machen? „Klassische Fehler sind das Abbiegen nach links ohne Schulterblick und zu nahes Auffahren in der Gruppe“, sagt Philipp Goldner. „Bei einem konkreten Anlass halten wir unterwegs an und besprechen das Thema direkt an der Gefahrenstelle, dann ist der Lerneffekt noch größer.“
Baustein 3: Mountainbike-AGs für alle
„In meiner Freizeit fahre ich nur ab und zu mit meiner Mutter Rad“, sagt Sara aus der 10b. „Zur Schule komme ich mit der Bahn. Mit dem Rad würde das länger dauern – und früher aufstehen will ich nicht.“ Trotzdem ist die 16-Jährige seit einigen Monaten bei der Mountainbike-AG dabei. Einmal pro Woche anderthalb Stunden am Nachmittag: Fahrtechniktraining im Parcours auf dem Schulhof, Theorieunterricht und Ausfahrten im Wechsel. Notfalls können die AG-Mitglieder auch drinnen strampeln: Im Untergeschoss stehen 20 Ergometer, die ein Sponsor zur Verfügung gestellt hat. „Hier trainieren wir bei Regen oder Kälte“, sagt Sportlehrerin Johanna Dörder. „Das ist gut für die Kondition, außerdem können besonders die Jüngeren im Stand Handzeichen und den Schulterblick üben.“ Johanna Dörder ist eine von drei Lehrkräften, die sich um die drei nach Alter der Teilnehmenden aufgeteilten Mountainbike-AGs kümmert. Insgesamt 30 Schülerinnen und Schüler machen derzeit mit, Tendenz steigend. „Ich will meine Leidenschaft fürs Radfahren in der AG weitergeben und insbesondere den Mädchen ein Vorbild sein“, sagt Johanna Dörder. Dass das funktioniert, zeigt ihr Schützling Sara im Geschicklichkeitsparcours. Mit dem Mountainbike schlängelt sich die 16-Jährige souverän durch die enge Slalompassage, fährt dann mit Schwung über eine kleine Holzrampe und bremst kontrolliert ab, um die enge Kurve zur Zielgeraden zu erwischen. „Die Mountainbike-AG macht total Spaß“, erzählt Sara. „Ich habe viel besser fahren gelernt und fühle mich jetzt sicherer im Straßenverkehr.“
Verkehrssicherheit lässt sich nicht alleine im Klassenzimmer lernen. Diesen Erkenntnisgewinn kann man nur ‚erfahren‘. Zuerst auf dem Schulhof, später dann draußen.
(Philipp Goldner, Konrektor und Koordinator Mountainbike)
Baustein 4: Reparieren will gelernt sein
„Mathe finde ich echt okay, aber ich brenne fürs Mountainbiken“, sagt Adrian. „Wer viel fährt, hat auch mal eine Panne. Hier habe ich gelernt, mein Bike selbst zu reparieren.“ Mit hier meint der 18-Jährige den fast 50 Quadratmeter großen Werkstattraum im Keller der Schule. An den Wänden hängen zwei Dutzend Mountainbikes in verschiedenen Größen. Daneben finden sich Helme, Warnwesten, Ersatzschläuche und -mäntel, Kettenöl, Fahrradreiniger, Flickzeug und vieles mehr. Davor stehen eine Werkbank und zwei Montageständer, an denen die Räder in ergonomisch passender Arbeitshöhe repariert werden können. Angeleitet von Mountainbike-Koordinator und Konrektor Philipp Goldner wechseln Adrian und Sara einen defekten Schlauch. „Den Reifen abmachen, einen Schlauch flicken oder die Bremsen einstellen – das ist für mich dank der AG alles kein Problem mehr“, sagt die 16-Jährige. „Es ist toll, wenn man solche Probleme selber lösen kann.“
„Konrektor Philipp Goldner, der auch Koordinator Mountainbike an der Mittelschule München ist, gibt Reparaturtipps.“
Die richtigen Handgriffe zeigt regelmäßig ein Profi: Einen Teil der 2.500-Euro-Prämie für den Förderpreis „Innovative Verkehrserziehung in der Schule“ investierte die Mittelschule in einen externen Fahrradtechniker. „An zehn Nachmittagsterminen leitet er unsere Schülerinnen und Schüler in der Fahrradwerkstatt an, sie reparieren dann Schulräder oder ihre eigenen“, sagt Philipp Goldner. „Dabei geht es nicht nur um Fahrradtechnik, sondern auch um Selbstbefähigung und einen Schub für ihr Selbstbewusstsein.“
Baustein 5: Olympia und die Alpen
Für besonders Radbegeisterte wie den 18-jährigen Adrian bietet die Mittelschule noch mehr an. „Wir nehmen jedes Jahr bei den Schulsportmeisterschaften im Mountainbiken bei ‚Jugend trainiert für Olympia‘ teil“, sagt Schulleiter Ulrich Gierer. „Das ist ein Kriterium für die Auszeichnung ‚#SCHOOLBIKERS – Diese Schule ist fahrradfreundlich‘, die wir seit einigen Jahren haben.“ Aber das ist noch nicht alles. Der Höhepunkt aller schulischen Aktivitäten auf dem Fahrradsattel ist die „Transalp“: eine jahrgangsübergreifende Tour, die über mehrere Tage direkt bis in die Alpen führt. „Auf dem Weg in die Alpen können die Schülerinnen und Schüler alles abrufen, was sie gelernt haben: Geschicklichkeit, Gleichgewichtssinn, Durchhaltevermögen – und Teamgeist“, sagt Sportlehrerin Johanna Dörder. „Vor dem Start prüfen wir bei einem Sichtungsfahren, ob alle mit Blick auf Kondition, Fahrtechnik und Regelverhalten den Herausforderungen gewachsen sind.“ Bei der letzten Transalp musste niemand auf halber Strecke abgeholt werden, alle kamen in Sterzing in Südtirol an – nach fünf Tagen im Fahrradsattel, 250 Kilometern mit 2.500 Höhenmetern. „Die größte Bestätigung für unser Fahrradprojekt ist es, nach der Transalp-Fahrt in die Gesichter zu blicken“, sagt Schulleiter Ulrich Gierer: „Diese Freude, der Stolz, die begeisterten Anekdoten: Das ist für eine Lehrkraft das schönste Geschenk.“
SICHERHEIT MUSS MAN „ERFAHREN“
Die wichtigste Erkenntnis aus zahllosen Stunden Verkehrserziehung an der Mittelschule? Konrektor Philipp Goldner muss nicht lange überlegen. „Alle Beteiligten müssen verstehen, dass man Verkehrssicherheit nicht allein im Klassenzimmer lernen kann.“ Man müsse vieles ausprobieren, um Schritt für Schritt zu lernen, worauf es im Straßenverkehr ankommt. „Diesen Erkenntnisgewinn kann man nur ‚erfahren‘. Zuerst auf dem Schulhof, später dann draußen.“ Dass die Lehrkräfte dabei viel Verantwortung tragen, betont Schulleiter Ulrich Gierer: „Wir müssen alle potenziellen Verkehrsgefährdungen ebenso im Blick haben wie die Gruppendynamik – das ist eine fordernde Aufgabe. Aber es zahlt sich aus, weil mit jeder Erfahrung im Straßenverkehr die Sicherheit steigt.“
54 Prozent der Straßenverkehrsunfälle in der Schüler-Unfallversicherung sind Fahrradunfälle. 18.325 waren es im Jahr 2021, damit ist das Fahrrad das Verkehrsmittel, mit dem Schülerinnen und Schüler mit Abstand am häufigsten an Schulwegunfällen beteiligt sind.*
* Quelle: Statistik zum Schülerunfallgeschehen 2021, DGUV
MATERIALIEN
DGUV Information 202-049
Vom Durcheinanderlaufen zum Miteinanderfahren
www.dguv.de, Webcode: p202049
DGUV Information 202-047
Mit der Schulklasse sicher unterwegs
www.dguv.de, Webcode: p202047
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