Angstfach Sport?
Wie können Sportlehrkräfte dafür sorgen, dass sich kein Kind im Unterricht beschämt oder verunsichert fühlt? Prof. Dr. Ina Hunger, Sportwissenschaftlerin an der Georg-August-Universität Göttingen, empfiehlt, die eigene Unterrichtspraxis kritisch zu hinterfragen.
- Der Fokus auf die Körperlichkeit im Sportunterricht kann belastend sein
- Sportlehrkräfte sollten ihren Unterricht auf diskriminierende Momente überprüfen
- Schon kleine Veränderungen können die Belastungen für Betroffene reduzieren
Frau Prof. Hunger, kann der Sportunterricht Kinder besonders verunsichern?
Prof. Hunger: Ja. Anders als in anderen Fächern verlangen wir im Sportunterricht von den Kindern zum Beispiel, körperliche Risiken einzugehen und anderen ihre Bewegungsfähigkeiten zu präsentieren. Dabei steht die Körperlichkeit der Kinder und Jugendlichen permanent im Fokus des Unterrichtsgeschehens. Ihr Körper wird beobachtet, berührt und kommentiert. Das ist für manche Schülerinnen und Schüler unangenehm. Sportlichkeit ist bei uns ein hoher kultureller Leitwert. Wenn Heranwachsende von diesem deutlich sichtbar abweichen, sei es körperlich oder motorisch, dann zieht das in der Regel andere soziale Konsequenzen nach sich, als wenn sie zum Beispiel in Mathe oder Deutsch eine Leistung nicht erbringen.
Welche Folgen können Bloßstellungen und fiese Kommentare für die Betroffenen haben?
Ausgelacht oder verspottet zu werden, belastet Kinder und Jugendliche psychisch massiv. Manche Betroffene erinnern sich noch Jahre später peinvoll an Situationen, in denen sie von Mitschülerinnen und Mitschülern diskreditiert wurden. Aber auch Lehrkräfte verursachen Verunsicherungen. Ich denke da an saloppe Kommentierungen der Körperlichkeit, diskriminierende Auswahlverfahren und bloßstellende Situationen, etwa beim Vorführen von Übungen. Wenn die Lehrkraft dann auch noch die Klasse dazu auffordert, zum Beispiel mal zu schauen, ob die Schülerin auch „ihre Gesäßmuskeln richtig anspannt“, dann ist das für die Betroffene äußerst unangenehm!
Was sollte die Lehrkraft stattdessen tun? Schließlich muss sie ja auch Noten geben, da kann sie ja nicht ganz auf das Demonstrieren von Übungen verzichten.
Sportlehrkräfte müssen prüfen, ob es diskriminierende Momente in ihrem Unterricht gibt und dann entsprechend andere Maßnahmen ergreifen. So sollten sie unbedingt auf das „Wählen lassen“ unter Schülerinnen und Schülern verzichten! Überflüssige Kommentierungen des Körpers sind ebenso zu unterlassen. Werden Schülerinnen und Schüler entsprechend angeleitet, können sie sich auch gegenseitig gut unterstützen. Da kann die Lehrkraft dann darauf verzichten, die Kinder bei der Hilfestellung anzufassen. Und überhaupt: Es muss ja nicht jedes Kind vor der Großgruppe Übungen vormachen.
MIKE (12), 7. KLASSE AN EINER GESAMTSCHULE IN HAMBURG
In der Grundschule war ich ein wenig dicker als die anderen. Das war eigentlich kein Thema, beim Schulsport aber schon. Wenn Mannschaften gewählt wurden, wollte mich keiner haben. Das waren immer die schlimmsten Minuten eines Schultags. Zum Glück macht mein aktueller Sportlehrer das anders: Teams werden nicht gewählt, sondern ausgelost. Oder diejenigen mit gleichfarbigen T-Shirts spielen zusammen. Das finde ich viel besser.
Sie haben von weiteren Maßnahmen gesprochen, die Lehrkräfte umsetzen sollen. Welche beispielsweise?
Nehmen Sie zum Beispiel eine typische Situation im Schwimmunterricht: Zwei Kinder sind im Wasser, die anderen stehen in knapper Badekleidung am Beckenrand. Für übergewichtige Kinder oder Schülerinnen und Schüler mit Hautproblemen kann das zum unangenehmen Schaulauf werden. Es bietet sich also an, den Unterricht so zu organisieren, dass möglichst viele Kinder sich lange im Wasser aufhalten. Das ist keine große Sache, kann aber für Betroffene die Situation deutlich entspannen. Manchmal muss auch nur eine Kleinigkeit korrigiert werden, um etwas entscheidend zu verändern.
Sie leiten ein aktuelles Forschungsprojekt zum Thema „Verunsicherung im Sportunterricht“. Welche Fragestellungen stehen dabei im Mittelpunkt?
Im Forschungsprojekt verzahnen wir drei Blickrichtungen miteinander, die Verunsicherung im Sportunterricht beleuchten. Erstens fragen wir danach, welche Situationen von Schülerinnen und Schülern im Sportunterricht als verunsichernd wahrgenommen werden und was diese Situationen didaktisch und sozial auszeichnen. Zweitens fragen wir danach, welche Strategien Betroffene oder ehemalige Betroffene entwickeln, um solche psychosozial belastenden Situationen zu überstehen, zu vermeiden oder diese zu lösen. Drittens fragen wir auch nach den gesundheitlichen Auswirkungen solcher Belastungen und ihrer Wirkmacht auf den sportbezogenen Alltag der Menschen.
Wie lässt sich die konkrete Zielsetzung des Projekts beschreiben?
Ziel des Projektes ist es, die im Sportunterricht für (manche) Schülerinnen und Schüler regelmäßig wiederkehrenden belastenden Situationen aufzudecken, die unterrichtlichen Ursachen zu analysieren und die gesundheitlichen Folgewirkungen für die Betroffenen aufzuzeigen. Es gilt, das Thema zu enttabuisieren und solche Konsequenzen für die Praxis einzuleiten, die es ermöglichen, dass Sportunterricht diskriminierungsfrei stattfindet und sein Potenzial entfalten kann.
KALLE (9), 4. KLASSE AN EINER GRUNDSCHULE IN BADEN-WÜRTTEMBERG
Mathe, Deutsch, Religion: Eigentlich gehöre ich in jedem Fach zu den Klassenbesten. Manche sind deswegen vielleicht neidisch. Und weil ich beim Sport nicht so gut bin, sind sie fies zu mir. Am schlimmsten ist es beim Völkerball: Es dauert keine Minute, dann bin ich abgeworfen – und draußen. Mein Sportlehrer sagt, er kann das den anderen leider nicht verbieten. Ich finde es trotzdem gemein.
Wie ist der aktuelle Stand des Forschungsprojekts?
Aktuell haben wir mehr als 500 sogenannte Kurznarrationen erhoben. Das heißt, wir lassen Schülerinnen und Schüler, aber auch Ehemalige, beschreiben, welche Situationen des Sportunterrichts für sie psychosozial schwer belastend waren. Wir analysieren zusätzlich, was auf digitalen Plattformen im Internet zu Verunsicherung im Sportunterricht diskutiert wird. In mehr als 8.000 Kommentaren zeichnet sich ab, mit welch hohen gesellschaftlich geprägten körperbezogenen Erwartungen junge Menschen im Sportunterricht umgehen müssen. Außerdem haben wir 20 persönliche und sehr intensive Interviews mit ehemaligen Betroffenen zu ihrem früheren Sportunterricht, ihrem heutigen Alltag und ihrem Verhältnis zu Sport und Bewegung, aber auch zu ihrem Körper geführt. Wir haben bereits erste Ergebnisse veröffentlichen können, und es zeigt sich, dass das Projekt sowohl im wissenschaftlichen Kontext wie auch der breiteren Gesellschaft eine hohe Aufmerksamkeit erfährt.
Decken die Untersuchungen verschiedene Schulformen und Schulstufen ab – und erwarten Sie hier unterschiedliche Erkenntnisse?
Die Untersuchung wird an allen Schultypen ab der fünften Klasse durchgeführt. Es zeigen sich durchaus altersspezifische Unterschiede: zum Beispiel nimmt die Wahrnehmung von sexualisierten Kommentaren oder Grenzüberschreitungen im Jugendalter zu. Grundsätzlich beobachten wir jedoch das Phänomen, dass sich mehr oder weniger alle Schülerinnen und Schüler aller Schulformen den Situationen, in denen sie beschämt, erniedrigt oder ausgegrenzt werden, hilflos ausgeliefert sehen. Sie gehen vielfach davon, dass der „Fehler“ bei ihnen selbst liege, dass sie beispielsweise nicht den ‚richtigen Körper‘ haben. Oder sie glauben, ihnen fehle eine „Lockerheit“ in Bezug auf Berührungen oder Sprüche. Viele Schülerinnen und Schüler denken auch, dass das, was sie persönlich als peinvoll erleben, eben zum normalen Sportunterricht dazu gehöre. Sie können sich also kaum von dem Erlebten abgrenzen oder das Erlebte kritisch anprangern. Das erhöht ihren Leidensdruck.
Kann das Forschungsprojekt – neben Zusammenhängen zwischen Situationen im Sportunterricht und psychosozialen Belastungen – auch einen konkreten Katalog an Präventivmaßnahmen liefern, um künftig solchen Unsicherheiten und Belastungen vorzubeugen?
Ja. Auf Basis unserer Erkenntnisse werden wir auch klare Konsequenzen für die sportunterrichtliche Praxis aufzeigen. Wir werden einen Katalog an Präventivmaßnahmen erarbeiten, welcher dann Schulen, Ausbildungsstätten etc. zur Verfügung gestellt wird. Neben den bereits thematisierten Verhaltensrichtlinien für Lehrkräfte, wie das Unterlassen unnötiger Körperkommentierungen sowie das „Wählen lassen“, wird dieser Katalog auch konkrete organisatorische und methodische Hinweise umfassen, wie zum Beispiel ausgewählte problematische Unterrichtssituationen entschärft oder verhindert werden können. Aber nicht nur die Lehrkräfte, auch Schülerinnen, Schüler und Eltern sollten für bestimmte Probleme des Sportunterrichts sensibilisiert werden, damit dies kein Tabuthema mehr bleibt. Außerdem fehlen an Schulen bislang Strukturen, über die sich Betroffene einfach, effektiv und gegebenenfalls anonym Hilfe suchen können.
Prof. Dr. Ina Hunger leitet das Forschungsprojekt „Psychosoziale Gesundheit im Sportunterricht“, das die Unfallkassen Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Hessen und Berlin fördern