Der Wald ruft
Dr. Tina Heinzerling, Leiterin der Bildungsstätte am Richtsberg in Marburg

Der Wald ruft

„Unsere Kinder lieben es, nachmittags im Wald zu sein. Der Wald als Naturraum tut ihnen spürbar gut. Er entspannt und beruhigt sie, inspiriert und beflügelt aber auch ihre Kreativität und Fantasie. In ihm kann man zahlreiche Bewegungsabenteuer erleben und er bietet intensive Kommunikations- und Sprechanlässe. Diese zu erkennen, sprachbildend und sprachfördernd aufzugreifen und zu vertiefen, ist eine unserer wichtigsten Herausforderungen und Anliegen.“

Autorin: Gabriele Albert | DATUM: 10.11.22Bilder: Dominik Buschardt

Es ist angenehm ruhig hier im Buchenwald direkt hinter der Bildungsstätte am Richtsberg. Die hohen alten Bäume ragen weit in den Himmel hinein, ihre Blätter rauschen und wiegen sich im Wind. Trotz der hohen Außentemperaturen ist es hier kühl und erfrischend. Wir warten gemeinsam mit Bildungsstättenleiterin Dr. Tina Heinzerling auf die Hortkinder, die jeden Mittwochnachmittag nach der Grundschule und der Essenszeit hierher kommen.

 

Gemeinsam mit der pädagogischen Fachkraft Wieland Begere und zwei studentischen Hilfskräften kommen sie angelaufen und setzen sich auf mehrere Baumstämme, die so angeordnet sind, dass die Kinder und die Erwachsenen einen Sitzkreis bilden können. Jetzt steht erstmal das Gruppenplenum auf dem Programm.

„Die Kinder kommen hier nach ihrem Schultag zur Ruhe, sie fühlen sich gleich wohl, die Gruppendynamik ist ganz anders als in der Schule oder in den Räumlichkeiten des Horts“, erklärt Heinzerling. Und wirklich, die insgesamt circa 20 Kinder aus der ersten bis vierten Klasse setzen sich auf ein Zeichen ihres Betreuers hin ohne zu Murren oder sich zu schubsen in die Runde. Als Ruhesignal dient eine Sanduhr, die in der Mitte steht und von einem Kind umgedreht wird. So lange der Sand läuft, darf niemand etwas sagen. Das funktioniert überraschend gut. Danach geht es der Reihe nach. Wieland Begere fragt: „Erzählt doch mal, wie ist es euch heute ergangen? Warum geht es euch gut, warum vielleicht auch schlecht?“ Die Kinder berichten nacheinander, haben gelernt sich ausreden zu lassen und sich zuzuhören.

 

Dr. Tina Heinzerling ist zufrieden: „Natürlich ist das ein Lernprozess, aber die Umgebung hier hat einfach einen positiven Einfluss auf die Kinder. Und sie wissen, nach dem Kinderplenum geht es ins freie Spiel und das wollen natürlich alle am liebsten.“

Und tatsächlich, sofort nach Beendigung der Gesprächsrunde rasen ein paar Jungs zu einem Baum und überlegen sich, was sie heute mit den dort herumliegenden Ästen, Zweigen und Steinen bauen könnten. Sie haben sichtlich Spaß, die Naturmaterialien wird  immer wieder anders zu drapieren, Moos und Blätter dazu zu schichten.

Währenddessen versuchen zwei Mädchen an einer anderen Stelle ein Haus aus größeren Ästen zu bauen und diskutieren verschiedene Lösungen.

 

Wieland Begere sieht zufrieden, dass die einzelnen Gruppen in Sichtweite bleiben. Da sie sich selbst beschäftigen und die studentischen Hilfskräfte auch einen Blick auf die Kinder haben, kann er sich mit voller Konzentration zwei Schülern widmen und ihnen helfen, einen Streit zu schlichten. „Hier haben wir Zeit, auf die Kinder zuzugehen, Gespräche mit ihnen zu führen, ihnen aber gleichzeitig auch viel Freiraum zu lassen“, erklärt er und fasst seine Erfahrungen aus dem Waldprojekt so zusammen: „Der Wald ist ein offener Naturraum und wenn er sich öffnet, dann öffnen sich auch die Kinder. Es gibt hier keine einengenden Räume und es ist sehr schön zu beobachten, was das mit den Kindern macht. Sie sind offener, finden in anderen Konstellationen zueinander, gehen fairer miteinander um. Konflikte werden ausgehandelt und zwar mit Worten und nicht mit Fäusten.“

 

Hier im Wald kommen für die Kinder oft überraschende Erkenntnisse zutage, zum Beispiel wie geräuschvoll der Wald sein kann, wo er doch stets so still zu sein scheint. Fantasie und Kreativität werden durch die natürliche Umgebung angeregt: Naturmaterialien werden umgestaltet und umfunktioniert, kurzerhand wird ein Baumstamm zum Turngerät und ein Ast Teil eines Hauseingangs. Hier wird gesammelt, geordnet, gezählt und kategorisiert – mathematisches Verständnis also auf spielerische Art ganz ohne Heft und Bleistift gefördert. Der Forschungsgeist und die Lust auf Naturbeobachtungen werden angeregt, zum Beispiel, welche Tiere wann im Wald aktiv sind – und wann eben nicht.

 

Nach circa zwei Stunden ist für heute Schluss im Wald, alle gehen zusammen die paar hundert Meter zurück in das Hortgebäude. Die Kinder freuen sich auf die nächste Woche, wenn die Sanduhr wieder aufgestellt wird und ein neues Abenteuer inmitten der alten Buchen auf sie wartet.

Bildung durch Beziehung und Beteiligung ist das Leitbild der städtischen Bildungsstätte am Richtsberg in Marburg, einem Hort für circa 200 Grundschülerinnen und -schüler. Einer der pädagogischen Schwerpunkte ist die Natur- und Abenteuerpädagogik

Aktuell nimmt die Bildungsstätte an dem wissenschaftlich begleiteten Modellprojekt ELaDiNa („Early Language Development in Nature“) zur Sprachbildung in der Natur teil

DGUV Information 202-074: Mit Kindern im Wald – Möglichkeiten und Bedingungen, um in einem natürlichen Spiel- und Lebensraum sicher und gesund aufzuwachsen